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Hunderte Journalisten protestierten nach der Verhaftung von Kollegen im März für die Pressefreiheit.

Chronologie: Reporter in Haft

  • 3. März 2011 Zehn Journalistem, darunter Ahmet Sik (Autor des gülenkritischen, bisher unveröffentlichten Buches Die Armee des Imam), werden festgenommen.
  • 4. März Die EU-Kommission ruft die Türkei angesichts der Festnahmen zur Achtung der Pressefreiheit auf.
  • Mitte März gehen hunderte Journalisten in der Türkei auf die Straße, um gegen die Festnahmen zu protestieren.
  • Ende März lässt Staatsanwalt Zekeriya Öz alle Sik-Manuskripte beschlagnahmen und wird dann abberufen. (red/DER STANDARD, Printausgabe, 9.4.2011)
  • Foto: dapd/Ozbilici

    Der türkische Prediger Fethullah Gülen hat eine Bewegung begründet, deren Ziel es sein soll, eine Elite von Gläubigen in Unternehmen und Staat heranzubilden. Zwei ehemalige Zöglinge aus Schulen der "Gemeinschaft" erzählen.

    Der eine kommt aus Maras im Südosten, der andere aus Kocaeli, der Industrieprovinz im Westen, und beide waren sie ausersehen, sollten ein Rädchen im großen Werk der "Gemeinschaft" des Islampredigers Fethullah Gülen werden. Sie waren schon zu Schulzeiten beobachtet worden, hätten sehr wahrscheinlich ein Stipendium für die USA erhalten wie so viele andere vor und nach ihnen – das Ticket für eine Karriere im Boomland Türkei. "Sie studieren dein Verhalten und suchen nach denen, die Potenzial haben", sagen die beiden jungen Männer.

    Fatih und Umut (Namen von der Red. geändert) hatten Potenzial, aber am Ende auch ihren eigenen Willen. Da hat sie die Gülen-Bewegung hinausgeworfen. Fatih trägt ihnen das heute noch nach. "Leute, die es mit dem Islam ernst meinen, setzen keinen 17-Jährigen aus der Provinz in Istanbul auf die Straße." Fatih war beim Kartenspielen ertappt worden, Umut zerstritt sich wegen eines Zimmertauschs mit dem Herbergsvater. Möglich, dass die "Gemeinschaft" solche Verfehlungen ihres jungen Nachwuchses früher zu korrigieren versucht hätte. Doch die Zeit war dafür nicht mehr.

    Zu schnell zu groß

    In den letzten sieben, acht Jahren, seit die konservativ-muslimische AKP in der Türkei regiert, hat sich die "Cemaat" , wie die beiden Männer die Gülen-Bewegung leise nennen, verändert. "Sie ist so riesig geworden, so massiv und überall präsent, dass es schwierig geworden ist, sie zu kontrollieren" , sagt Umut. Gesetzlosigkeit sei in der Gemeinschaft ausgebrochen, Betrügereien und Intrigen gebe es, während das Werben um neue Mitglieder einfach nicht aufhöre. "Und trotzdem finden sie noch immer nicht die idealen Kinder."

    Umut ist heute 23, Fatih 24. Beide studieren Maschinenbau an der Marmara-Universität in Istanbul, eine der Hochschulen in der türkischen Metropole, wo die Gülen-Bewegung Studenten finanziert und anleitet. Es sind zwei ungewöhnliche junge Männer, sehr höflich, sehr kontrolliert, ohne Frage überdurchschnittlich begabt. Umut war unter den 40 besten seines Jahrgangs am Ende des Gymnasiums und bekam 70 Prozent Rabatt auf die Kosten für die Privatschulen der Gülen-Bewegung, die junge Türken auf die Eingangsprüfungen für die Universitäten vorbereiten. Die "Derºane" , wie diese heißen, gibt es, weil die öffentlichen Schulen an diesem Punkt versagen. Und Gülens Derºane gelten als die besten im Land, zählen mit zu den besten auf der Welt, über die sich das Schulsystem des Predigers in den letzten Jahren ausgebreitet hat.

    Fatih war 14, als er von den Gülen-Vertretern angesprochen wurde. Er hatte die Zulassung für das wissenschaftliche Gymnasium in Sivas im kurdischen Südosten der Türkei bestanden und wurde "Gast" in einer der Wohnungen, die die "Gemeinschaft" in der Stadt unterhält. Es sind komfortable große Wohnungen, Fatihs Wochenenddomizil hat sogar ein Jacuzzi-Becken. Später, in Istanbul wird er zusammen mit anderen Studenten in einer 180 Quadratmeter großen Wohnung nahe der Bagdad-Straße im teuren Bostanci-Viertel untergebracht sein. "Sie mischen sich im ersten Jahr noch nicht so sehr ein. Nach dem zweiten Jahr aber steigt der Druck. Sie laden jeden ein, und wenn du siehst, dass jeder geht, dann gehst du auch zu ihnen."

    Viele Geldgeber

    Die Cemaat hat viele Geldgeber. Große Unternehmen, kleine Betriebe, Geschäftsleute, die etwa das Mobiliar für die "Gästehäuser" liefern, weil man ihnen bedeutet, sie sollten an die Zukunft ihrer Aufträge denken. Jeder ist mit jedem verbunden, auch die Geschäftsleute einer Stadt treffen sich im Gemeinschaftszirkel, den sie "Hizmet" nennen – den "Dienst" -, melden sich ab, wenn sie auf Reise aus der Provinz gehen. Die Grenzen zwischen Konvention und Kontrolle sind verschwommen. "Hizmet" ist auch ein Begriff, der in Reden von Regierungschef Tayyip Erdogan wie ein Signal auftaucht; Zaman, der Titel der Zeitung mit der höchsten Druckauflage und ein Produkt des Gülen-Imperiums, lautet rückwärts gelesen "Namaz" – "Gebet". Es ist der Stoff, aus dem Verschwörungstheorien sind.

    Am Anfang geht es nur um Freizeitspaß, erzählt Fatih. Fußball, Theater, Gespräche in kleinen Gruppen von vier bis fünf Gleichaltrigen, organisiert von den Leitern. "Nach einer Weile fangen sie an, über Religion zu reden." Über die Jugend, die berufen ist, den Islam zu führen. Privater Unterricht in Religion sei an sich nichts Ungewöhnliches, sagt Fatih. "Es ist in unserer Tradition". Doch dann ist da eben noch das Kalkül und der Zwang der Cemaat. "Sie wollen dir das Gefühl geben, dass du ein einzigartiger Mensch bist. Und wenn du nicht folgst, dann lassen sich dich spüren, wie einsam du bist." (Markus Bernath aus Istanbul/DER STANDARD, Printausgabe, 9.4.2011)