Peter Handke, "Der Große Fall". € 25,60 / 279 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2011

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"Bis da einer bei der Haustür draußen ist und beim Gartentürl sind schon sechzig Seiten weg", sagte Thomas Bernhard einmal, und dieses Aperçu war auf den Beschreibungsfuror des Rivalen Peter Handke gemünzt: "Immer wieder drehen sich die Leut um, weil der Dichter keine Phantasie hat und nicht weiß, wie's weitergehen soll."

Der Held von Handkes neuer Erzählung, ein abgedankter Schauspieler, erfüllt dieses Klischee, obwohl der Dichter mehr als genug Fantasie hat, geradezu vorbildlich: Er braucht immerhin 44 Seiten, bis er das Haus seiner Geliebten verlassen hat, und dann pflegt er auch noch das Rückwärtsgehen im Abgang und möchte, gerade weil dies Königen nicht gemäß sei, einen "König Rückwärtsgeher" spielen.

Dass die Erzählung auf diese Weise eher gemächlich vorankommt, ist nicht weiter verwunderlich: eine Welteroberung im Schneckentempo. Der Schauspieler, mit dem der Ich-Erzähler auf vertrautem Fuße steht, macht sich, von einem Gewitter geweckt, in der Früh auf, um von der Peripherie ins Zentrum einer Weltstadt zu gehen, die Paris sehr ähnlich schaut.

Dort will er, der "über das Alter, einen Geliebten darzustellen, hinaus war", die Frau treffen, mit der er die Nacht verbracht hat, dort soll der Staatspräsident ihm am Abend eine hohe Auszeichnung verleihen. Und am nächsten Tag beginnen die Dreharbeiten zu einem Film, in dem der Held doch noch einmal eine Hauptrolle spielen will: einen Amokläufer.

Anders als in Kali (2007) rundet sich hier keine noch so fragile Geschichte, anders als in Don Juan (2004) ergeben die Begegnungen und Abenteuer, die der Weg für den Tagesreisenden bereithält, keinen noch so sachten Spannungsbogen. Handkes Müßiggang ist dennoch kein Spaziergang: Der berühmte Schauspieler, der "querwaldein" dem Großen Fall entgegengeht, hat alle Zeit der Welt und gerät doch, wie Handkes Don Juan, in grausame "Zeitnot".

Betont Unschönes

Als ehemaliger Fliesenleger hält er seinen Blick auf den Boden gerichtet wie sonst die Pilzjäger in Handkes Büchern. Ein Panoptikum teils geschäftiger, teils sonderlicher, teils total verwahrloster Gestalten bietet sich ihm, kein neues Welttheater.

Da ist zum Beispiel diese "paradiesisch menschenleere Lichtung", die sich plötzlich mit unzähligen Wanderern, Radfahrern, Joggern und Nordic Walkern bevölkert, zum Schrecken des Schauspielers, denn "das betont Unschöne" ist "nicht seine Sache". Als dann der Präsident höchstpersönlich vorbeirennt, wächst sich die Irritation zum Hass aus; am liebsten würde der Ästhet dem Propagandisten faustischer Tatkraft ein Messer in Bauch rammen. Blitzartig - und das ist Handkes Kunst - wird aus dieser Orgie des Weltekels eine neue Harmonia mundi. Gut, da blättert noch ein Läufer in seiner Agenda, aber dort sitzt immerhin einer mit der Odyssee im Gras: "Es war keine Täuschung. Die Unbekannten bildeten unter dem blauenden Himmel (...) ein Miteinander."

An Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili erinnert die plötzliche allumfassende Gemeinschaft. Wie dort ist der Friede nicht von langer Dauer, auch nicht in der Brust des Helden.

Der, Rappelkopf und Alpenkönig in einer Person, gerät auf seinem magischen Parcours durch Niemandsländer und Siedlungen in gnadenlose "Nachbarnkriege" und nimmt in der U-Bahn den "Pestgestank" einer allgemeinen Mordlust wahr. Zum Schluss verliest der Präsident, der nicht Sarkozy heißt, im Fernsehen "eine Kriegserklärung, die sich nicht so nannte, sondern 'Eingriff', 'Intervention', 'Gegenschlag', 'Reaktion'". Von diesem Mann will der Schauspieler keine Ehrung.

Seltsamer Heiliger

Handkes seltsamer Heiliger räumt auf wie Jesus, der die Geldwechsler aus dem Tempel wirft. Er spiegelt sich in einer Filmgalerie von Desperados, von Taxi Driver bis Gran Torino.

Ein Priester nennt ihn Christophorus: weil er das "Gewicht der Welt" trage. Mit dieser Anspielung auf das eigene Werk (nicht der einzigen) hat Handke en passant die Rolle des Dichters definiert. Zum Glück nimmt er das Weltgewicht hie und da auch auf die leichte Schulter, wird selbstironisch, bissig, burlesk. Eine "Schmährede" an den Zitronenkern, der ihm auf Nimmerwiedersehen entfleucht ist, hält der amoklaufende Held des vom Schauspieler gelesenen Buches im Buch.

"Hast du Worte!", heißt es gleich dreimal - und, ja, Handke hat Worte, überraschende, komische, schöne Worte für die Zumutung unserer Welt. "Verwunderlich eigentlich, dass so wenige Amok liefen. Und wenn, jäher Gedanke, einer, der Amok lief, sich zugleich opfern, jemanden oder etwas retten wollte?" Denn retten will der Held unbedingt jemanden, am liebsten alle, bis jetzt hat er nur einen Igel und eine Biene vorzuweisen.

Aber kann er sich denn selbst retten? Am Schluss ist er zur Liebe, bisher schmerzlich verfehlt, wild entschlossen, doch Handkes apokalyptisches Zaubermärchen gönnt ihm kein gutes Ende: Der Große Fall ist wohl der Fall des letzten Vorhangs. Dies ist, seinem autoritären Gestus zum Trotz, ein zerstreuter Text, einer, der in heftigem Bühnenzauber verstiebt. Und doch macht sein Autor, schwankend zwischen literarischem Helfersyndrom und dem Zorn des Propheten, dem zitierten Navajo-Namen Haske Yichi Nixwod alle Ehre: "Der mit Bestimmtheit geht." ( Daniela Strigl, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 9./10. April 2011)