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Wanderfische können radioaktives Material über weite Entfernungen transportieren. Abgesehen von den Umweltschäden, leidet auch die Gesundheit der Fische.

Foto: REUTERS/Finbarr O'Reilly

Studien zu den Folgen von Atombombentests geben jedoch Hinweise darauf, was auf Sedimente, Fische und andere Meerestiere zukommt.

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Die Schreckensmeldungen reißen nicht ab: Im havarierten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi lässt die Betreiberfirma 11.500 Tonnen angeblich nur leicht kontaminiertes Kühlwasser ins Meer abfließen. Gleichzeitig tritt stark verseuchte Flüssigkeit aus dem lecken Reaktorblock 2 aus. Eine höllische Brühe voll radioaktiver Zerfallsprodukte, darunter Cäsium-(Cs)-137, Strontium-(Sr)-90 und wohl auch Plutonium.

Niemand weiß, wie viel strahlende Materie bereits in den Pazifik gelangt ist oder dies noch tun wird und was die ökologischen Folgen sind. Man hofft auf den Verdünnungseffekt. Fachleute halten sich eher bedeckt, viele beantworten nur ungern Fragen. Man will nicht mit Spekulationen in die Öffentlichkeit treten, das Thema ist politisch brisant, erklärt ein kanadischer staatlicher Experte dem Standard. Der Mann möchte auch nicht namentlich genannt werden.

Der japanische GAU mag, technisch gesehen, zwar einzigartig sein, doch es gibt durchaus andere nukleare Ereignisse, die sich zum Vergleich eignen. Während des Kalten Krieges wurde eine Reihe oberirdischer Atombombentests durchgeführt. Einige davon fanden auf Inseln oder im Wasser statt. So zündeten die Sowjets in den Fünfzigern im Tschornaja-Fjord an der Küste Nowaja Semljas mindestens zwei Atomwaffen. Vier Jahrzehnte später untersuchte ein internationales Forscherteam die ökologischen Folgen dieser Versuche (veröffentlicht in Continental Shelf Research, Bd. 20, S. 255). Besonderes Augenmerk galt dabei dem hochradioaktiven und giftigen Plutonium (Pu). Die Sedimente am Boden des Fjords sind zum Teil mit mehr als 15.000 Becquerel pro Kilo Trockengewicht mit den Plutoniumisotopen Pu-239 und -240 verseucht. Im Tiefenwasser wurden 4200 Becquerel pro Kubikmeter gemessen, eine enorme Belastung also.

Keine Einzeller im Schlick

Die Wissenschafter machten allerdings eine verblüffende Entdeckung: Der schwer kontaminierte Schlick beherbergte reichlich Leben, unter anderem Muscheln der Art Macoma calcarea, Borstenwürmer und Seeigel. Auf den ersten Blick unterscheidet sich diese Bodenfauna nicht von Lebensgemeinschaften im offenen Meer. Die Radioaktivität scheint ihr nicht groß zu schaden. An den am stärksten verseuchten Stellen fehlten jedoch die sonst häufigen Protozoen. Diese Einzeller sind offenbar weniger strahlungsresistent als die größeren Schlammbewohner.

Anscheinend reichert sich das Plutonium auch nicht in den Muscheln an. In ihrem Fleisch beträgt die Konzentration nur ein Zehntel jener des Bodens. Dass sich diese Meeresfrüchte mit 104 Becquerel (Bq) pro Kilo nicht für den menschlichen Verzehr eignen würden, steht aber außer Frage. Die Forscher fanden auch im Seetang aus dem Tschornaja-Fjord nur relativ geringe Plutoniummengen. Hier liegt die Belastung zwischen fünf und 15 Bec- querel pro Kilo getrockneter Algen.

Weitere interessante Studien liegen für die Marshallinseln im Pazifik vor. Hier testeten die US-Amerikaner Atomwaffen. Vor wenigen Jahren untersuchten Fachleute des Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) die radioaktive Kontamination von Riesenmuscheln, Schnecken und Seegurken aus den Gewässern des Enewetak-Atolls. Die Ergebnisse zeigen ebenfalls eher moderate Belastungen, für Plutonium bleiben die Werte unter zwei Becquerel pro Kilo.

Cäsium-137 und Americium-241 sind nur minimal nachweisbar, strahlendes Kobalt-60 erreicht jedoch in den Riesenmuscheln der Gattung Tridacna Konzentrationen von 7,6 Bq/kg. Für die Bewohner der wiederbesiedelten Inseln dürfte das Verspeisen solchen Seafoods wahrscheinlich kein wesentliches Risiko darstellen, meinen die LLNL-Experten. Durch den Konsum von stark mit Cs-137 kontaminierten Feldfrüchten aus lokalem Anbau seien die Marshallesen viel höheren Strahlungsdosen ausgesetzt.

Allerdings haben die radioaktiven Substanzen unterschiedliche Eigenschaften und Wirkungen. Gerade Plutonium ist tückisch, dennoch hat dieser tödliche Stoff auch eine positive Neigung. Plutoniumpartikel lagern sich im Wasser schnell an anderen Teilchen an, das meiste sinkt so rasch zu Boden. Im Fall Fukushima dürfte der Löwenanteil der ins Meer gespülten Plutoniummenge deshalb dauerhaft in Küstennähe bleiben. Ähnliches lässt sich an der Westküste Englands beobachten, wo schon seit Jahrzehnten radioaktiv belastete Abwässer aus der Wiederaufbereitungsanlage Sellafield eingeleitet werden.

Cs-137 verhält sich dafür deutlich mobiler. Es wird relativ leicht von Lebewesen aufgenommen und von diesen unter Umständen sogar über weitere Entfernungen transportiert. Wanderfische könnten vor der japanischen Küste kontaminiertes Kleingetier fressen und das sich so einverleibte Cäsium in ihrer Muskulatur einlagern.

Verringerte Fruchtbarkeit

Dass dabei für die Fische tödliche Konzentrationen entstehen, ist indes unwahrscheinlich. Möglicherweise kommt es aber zu gesundheitlichen Störungen und verringerter Fruchtbarkeit. Britische Biologen haben bei Laborversuchen beobachtet, wie die Geschlechtsorgane männlicher Schollen bei einer relativ geringen, aber langfristigen Strahlenbelastung schrumpften. Die Spermienproduktion war stark eingeschränkt, gänzlich unfruchtbar wurden die Tiere aber nicht.

Auch wenn die meisten der durch den Fukushima-GAU ausgelösten Umweltschäden auf die dortige Küstenregion begrenzt bleiben dürften - die Spuren der Katastrophe werden auch in entlegenen Winkeln der Ozeane nachweisbar sein. Als italienische Wissenschafter Ende der 1990er-Jahre im Antarktischen Meer nach radioaktiver Verschmutzung suchten, wurden sie prompt fündig. Sowohl in Fischen wie auch in Wirbellosen trafen die Forscher auf die üblichen strahlenden Verdächtigen. Cs-137, Sr-90, Plutonium: alle da. Das Cäsium kam in Muscheln und Schwämmen sogar in Konzentrationen von mehr als zwei Bequerel pro Kilo vor. Selbst die Ökosysteme des Südpols sind vor radioaktiver Kontamination nicht sicher. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 06.04.2011)

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Immer wieder ist in der Debatte um radioaktive Umweltbelastung von Bioakkumulation die Rede. Dabei handelt es sich um die Anreicherung von Stoffen über die Nahrungskette. Als meeresökologische Faustregel gilt: Raubfische brauchen zehn Kilogramm Kleinfische, um ein Kilo zuzunehmen, das Wachstum von 100 Kilogramm Zooplankton benötigt eine Tonne einzellige Algen. Dementsprechend steigt die Konzentration eventuell aufgenommener schädlicher Substanzen jeweils um das Zehnfache - zumindest theoretisch.

Viele Schadstoffe können die Organismen aber auch wieder ausscheiden. Einige radioaktive Substanzen wie Cs-137 reichern sich anscheinend tatsächlich an. Bei Plutonium ist dies nach Meinung der meisten Experten nicht der Fall. Über das kombinierte Wirken mehrerer strahlender Isotope gibt es leider noch keine genaueren Erkenntnisse. (deswa/DER STANDARD, Printausgabe, 06.04.2011)