Cover Böhlau-Verlag

Wien - Der französische Präsident Nicolas Sarkozy war die treibende Kraft hinter der internationalen Militäraktion in Libyen. Neben humanitären Motiven geht es wohl auch darum, Frankreichs stark geschrumpfte internationale Rolle wieder aufzupäppeln - und nebenbei weiteren Einflussverlust in seinen ehemaligen afrikanischen Kolonien zu bremsen.

Dies auch vis-à-vis der aufstrebenden und rohstoffhungrigen neuen Weltmacht China, die gerade in Afrika durchaus kolonialistischen Gestus an den Tag legt. Die alte Supermacht USA, ihrerseits mit inneren Problemen und kaum noch finanzierbaren Engagements als Weltpolizist beschäftigt, kann dem wenig entgegensetzen.

"Es ist das emporstrebende Land, das gerade etwas weiter aufgestiegen ist als seine Nachbarn, das aggressive Aspirationen entwickelt." Das stellte bereits in den 1950er-Jahren der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Arthur Lewis fest. Marcel van der Linden, Forschungsdirektor am Amsterdamer International Institute of Social History, erinnerte daran jüngst in Wien. Anlass war die Präsentation des Buches Globalgeschichte 1800-2010 (Hg. Reinhard Sieder und Ernst Langthaler, Böhlau-Verlag). Sieder ist Vorstand des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Langthaler ebendort Gastprofessor und Senior Researcher am Institut für die Geschichte des ländlichen Raums in St. Pölten.

Was ist Globalgeschichte? Nicht das große welthistorische Epos, sondern, wie die Herausgeber schreiben, die Erforschung der "sich nicht linear, doch wiederholt intensivierenden Interaktionen und Transfers zwischen Weltregionen und die Herausbildung von ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Netzwerken und jenen Institutionen und Medien, die sie ermöglichen, organisieren und vorantreiben".

Das Große im Kleinen

Knapper ausgedrückt: Man muss nicht die ganze Welt erfassen, um sie zu verstehen. Oder, wie van der Linden feststellt: Man kann auch die Globalgeschichte eines oberösterreichischen Dorfs schreiben: "Woher und weshalb sind MigrantInnen gekommen? Wie entwickelte sich der Einfluss der römisch-katholischen Hierarchie? Wie beeinflussten Weltkonjunkturen und internationale Machtkämpfe lokale Entwicklungen? Im Kleinen das historisch Große zu sehen (und im Großen das historisch Kleine) - darum geht es vor allem!"

Für van der Linden hat es bisher vier Weltkriege gegeben: den ersten 1754-1763 (Französisch-Indanischer Krieg, Siebenjähriger Krieg in Europa, Kämpfe auch in der Karibik und Indien), den zweiten 1803-1815 (Napoleonische Kriege). Der erste habe die Unabhängigkeit der USA vorbereitet, der zweite die erfolgreichen Unabhängigkeitskämpfe in Lateinamerika gefördert. Global gesehen hätten die beiden ersten Weltkriege den Aufstieg Großbritanniens, der dritte und der vierte (1914-1918, 1939-1945) jenen der USA zur Welthegemonie ermöglicht.

Zum Niedergang des British Empire illustrierte der Historiker globale Zusammenhänge anhand einer Begegnung mit indischen Gewerkschaftern: Sie fanden Hitler sympathisch, "weil wir ihm unsere Unabhängigkeit zu verdanken haben". Das stimmt insofern, als der Zweite (eigentlich vierte) Weltkrieg die Kolonialmächte schwächte und so Raum für Unabhängigkeitsbewegungen schuf.

Die Vorgeschichte dieser Unabhängigkeitsbewegungen wiederum war die Ausbeutung in den Kolonien. Die "Erfindung des Frühstücks", wie der britische Historiker Chris Bayly es nannte, führte laut van der Linden zu weitreichenden sozialen und ökonomischen Verschiebungen in den Kolonialgesellschaften.

Das Buch Globalgeschichte liefert mit Beiträgen zu Themen wie Energie- und Materialflüsse, Migration, Demografie, Konsumverhalten, Familie, Kommunikation, Religionen, Kriegsführung und vielem mehr eine erkenntnisfördernde Basis für das Denken in globalen Zusammenhängen. Globalgeschichte schärfe weit besser, als es national orientierte Geschichtsschreibung könnte, den Blick für Entwicklungen der Zukunft, meint van der Linden.

Hier besteht wenig Anlass zu Optimismus. Denn Globalgeschichte lehrt auch, dass Schwächung der hegemonialen Großmacht und Aufstieg von Konkurrenten die Kriegsgefahr steigert. Ein Trost mag sein, dass Geschichte auch lehrt, dass in der Geschichte immer alles möglich ist. Also auch das Gegenteil. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5. April 2011)