Der Staat ist in der Pflicht. Denn noch schlimmer als selbstverschuldete Unmündigkeit ist fremdverschuldete.

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Im österreichischen Schulsystem befinden sich - von der Volkschule bis in die höheren Schulen - derzeit mehr als eine Million Kinder und Jugendliche.

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Nach der Pflichtschule bleiben noch knapp vier Fünftel der Teenager in der Schule, das ist weniger als im EU-Schnitt.

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Es gibt aber auch ein Ost-West-Gefälle in der Beteiligung an höherer Bildung.

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Von Samuel Beckett stammt die Satzkaskade "Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better". Zu finden im Stück Worstward Ho. "Immer wieder versucht, immer wieder gescheitert. Kein Problem. Versuche es nochmals, scheitere nochmals. Scheitere besser."

Die zweite Hälfte des Zitats steht auf einem Teppich, der die österreichische Bildungspolitik zum Fliegen bringen soll. Er liegt im Büro von Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ), zu lesen ist darauf u. a.: "Try again. Fail again. Fail better."

Beckett als Politikberater? Ja. Das geht und passt sogar ganz gut.

Der Wiener Philosoph Alfred Pfabigan beschrieb die Beckett'schen Betrachtungen als "ein fast fröhliches Statement, das eine realistische Mitte zwischen ,Optimismus' und ,Pessimismus' besetzt". Insofern darf der Teppich-Text als adäquate Anmerkung zur Lage der Schulreform in Österreich gedeutet werden. Denn kein anderes Politikfeld vermittelt seit vielen Jahren einen so abgewohnten, überholten, nach Reformen hungernden und zugleich reformresistenten Eindruck wie die Schule.

Die Dinge sind an einem Punkt angelangt, an dem alle Beteiligten oder Betroffenen, wenn schon nicht nach der ungeliebten "Reform", so doch nach etwas anderem lechzen. Es "sitzt" nicht mehr, das Schulsystem. Die Gesellschaft ist herausgewachsen wie aus einer Hose, die spannt und zwickt, die zu klein und zu kurz ist.

Es gibt einen breiten Frust, der sich weit hineingefressen hat in die Elternschaft, die merkt, dass etwas nicht mehr stimmt. Oft ist es ein diffuses Unwohlsein - Pisa schwebt wie eine dunkle Wolke über dem eigenen Kind -, oft ein sehr konkretes Problemerleben in und mit dem Schulsystem. Sie zahlen als Steuerzahler die Schule und als Eltern oft für Nachhilfe. Zweimal zahlen für eine Schule? Das ist ein bisschen viel. Zu viel.

Ein Frust, der auch viele Lehrerinnen und Lehrer entnervt, die sich aufgerieben fühlen zwischen den Ansprüchen und Ängsten der Eltern, die berechtigterweise nicht wollen, dass gerade ihr Kind "zurückbleibt" in der beschleunigten Bildungsmaschinerie, die all zu oft als erster Zulieferbetrieb für den Arbeitsmarkt, den "Standort" Österreich, interpretiert wird.

Wozu gibt es die Schule überhaupt? Was soll sie leisten? Soll sie den Schülerinnen und Schülern Bildung vermitteln, oder soll sie vorrangig vermittlungsfähig ausbilden? Diese Frage trifft ins Herz dessen, was Schule sein soll.

Es geht um die wichtigste Selbstermächtigungsinstanz in einer Gesellschaft. Damit ist sie nicht nur für die Politik eine Herausforderung, denn gebildete, reflexionsfähige, zur Kritikfähigkeit angeleitete Bürger sind anspruchsvoller zu regieren als bildungsarm gehaltene. Die Schule ist aber nicht nur eine Emanzipationsmaschine. Sie ist eine wirkmächtige Umverteilungsmaschine. Bildung weist einen Platz im sozialen Gefüge, in der gesellschaftlichen Hierarchie zu. Das macht sie unberechenbar, das setzt Verteidigungsmaßnahmen derer in Gang, die "oben" sind, die "vorn" dabei sind, die bildungsnah und damit nah an den Trögen sind, wo gesellschaftlicher Status und ökonomischer Profit verteilt werden. Bildung untergräbt die historisch verhärtete Reproduktion sozialer Verhältnisse.

Genau das aber leistet das österreichische Schulsystem weniger denn je. Schlimmer noch, es erfüllt nicht einmal seine Kernaufgabe - stetig schlechte Ergebnisse bei internationalen Vergleichstests sind ein obszönes Fanal für ein reiches Land wie Österreich. Nein, Pisa, Pirls, Timss etc. sind weder Selbstzweck noch das Ziel von Schule, aber sie sind relevante Marker. Alarmzeichen, die nicht weggeredet werden können: Ein Viertel der Jugendlichen sind am Ende der Pflichtschulzeit de facto Teilanalphabeten. Jeder Einzelne eine individuelle Lebenskatastrophe, alle zusammen ein gesellschaftspolitisch gefährliches Kollektiv der Abgehängten.

Um sie geht es. Nicht nur, aber besonders um sie. An dieser Gruppe, die das Scheitern der Schule gnadenlos aufzeigt, lässt sich die Notwendigkeit einer tiefgreifenden, radikalen Schulreform ablesen. Oder wie es Bildungsforscher Stefan Hopmann von der Uni Wien - jenseits aller Strukturdebatten um Gesamtschule oder nicht - formuliert: "Das zentrale Problem ist, dass der Graben zwischen Bildungsgewinnern und Bildungsverlierern wächst."

Ein Graben, der die Gesellschaft gefährlichen Zentrifugalkräften aussetzt, die niemand wollen kann. Auch nicht die, die auf die Gewinnerseite gefallen sind. Die sind, bei der derzeitigen Verfasstheit des Bildungssystems, meist von Geburt an in relativ sicheren Gefilden, weil sie den richtigen Eltern in den Schoß gefallen sind. Richtig, weil bildungsnah. Die anderen geraten in eine Menschenfressermaschine, die dergestalt ist, "dass im Bildungswettlauf die Zahl der Kollateralschäden wächst", warnt Hopmann.

Die Bildungsnahen wissen sich zu helfen, die Finanzstarken, oft identisch mit Ersteren, können sich helfen lassen. "Der Rest" fällt zurück, geht verloren. Ein besonders hohes Risiko haben Migranten. "In Österreich ist das Gymnasium eine Prämienverteilung für Mütter", sagt Hopmann. Wer das Kind brav als Nachhilfelehrerin zu Hause AHS-reif macht, wird mit dem Gymnasium "belohnt". Und noch mehr: Die "Schrägverteilung nach oben" garantiert auch, dass dort die meisten Ressourcen hinverschoben werden, dass dort die bestausgebildeten und also teuersten Lehrer auf den Nachwuchs warten - eine zynische Bindung von Steuergeldern, die den ohnehin schon Privilegierten zugute kommt.

Es ist ein Umverteilungsproblem, sagt der Bildungsforscher: "Die entscheidende Frage ist: Ist die Gesellschaft bereit, umzuverteilen und die gezielt zu fördern, die es brauchen?" Da muss das Geld hin. Also nach unten. Und schon in den vorschulischen Bereich. Mehr Geld, mehr Pädagoginnen, mehr Qualifikation für gezielte Interventionsprogramme. "Aber solange es Wohlstandszuwächse zu verteilen gibt, erspart man sich diese Debatte."

Es ist die Verantwortung eines sozialen, verantwortungsbewussten, demokratischen Wohlfahrtsstaates, die Rahmenbedingungen für gelingende Bildungsprozesse zu schaffen. Denn noch schlimmer als selbstverschuldete Unmündigkeit ist fremdverschuldete. Und Bildungsarmut ist das fahrlässigste aller Politikversagen.

An dieser Frage, wie mit den Kindern umgegangen werden soll, die nicht zu Hause aufgefangen werden, deren Eltern nicht genug Geld-, Lern-, ja, Selbsthilfe-Ressourcen haben, um ihren schicksalhaften Startnachteil, den das Leben nun mal immer ungerecht verteilt, auszugleichen, schließen alle anderen Fragen nach Lehrerbildung, Dienstrecht und Schulstruktur an.

Davor muss die Erkenntnis stehen, dass Schule mehr ist: Sozialpolitik, Integrationspolitik, Gesellschaftspolitik. Sie ist der einzige verbindliche Ort, an dem alle Kinder wenigstens neun Jahre die Chance bekommen müssen, das zu werden, was sie sein könnten. Gerade die, deren äußere Chancen geringer sind. Es ist das Zeitfenster, in dem der Staat kompensierend eingreifen muss.

Dieses Bekenntnis steht am Anfang jeder echten Schulreform. Dieses ungeteilte Bekenntnis lässt auf sich warten. Zu lange schon.

Es drängt sich ein anderes Beckett-Stück auf: Warten auf Godot.

"Estragon: Komm, wir gehen!

Wladimir: Wir können nicht.

Estragon: Warum nicht?

Wladimir: Wir warten auf Godot.

Estragon: Ach ja."

Wir warten. Ach ja. Ja. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD; Printausgabe, 5.4.2011)