Koni Nordmann/Vom Kern der Schweiz
Koni Nordmann/Vom Kern der Schweiz

Eidgenössischer geht's nicht: Szenen im und ums Älggi und damit fast ganz in der Mitte der Schweiz

Koni Nordmann/Vom Kern der Schweiz
Für den nicht Eingeweihten ist das Älggi etwas ganz Alltägliches: eine Schweizer Alm in 1600 Meter Höhe im Kanton Obwalden, eine Bergbeiz, ein paar Hütten; Bäume, Wiesen. Man erreicht sie "per Fahrzeug von Sachseln oder Flüeli her, zu Fuss auch von Frutt, Melchtal oder Lungern". Aha! So steht's in einem schönen Buch über die Alm. Aber wieso ein ganzes Buch, und warum sollte man die Mühen auf sich nehmen?

Weil das Älggi einmalig ist. Hier befindet sich, das hat das Berner Bundesamt für Landestopographie mit Computer und einer komplizierten Formel berechnet, das geographische Zentrum der Schweiz. Man hat sich für eine Methode entschieden, die ungefähr der Technik entspricht, eine Landkarte auf eine Holzplatte zu kleben, auszuschneiden und auf einer Bleistiftspitze zu balancieren. Wo's im Gleichgewicht bleibt, dort ist diese wie von Disney geschaffene eidgenössische Mitte.

Wenn auch nicht ganz

"Mer händ es bitzeli bschisse", sagt Vermessungsingenieur Martin Gurtner, weil der wirklich exakte Mittelpunkt des Landes eine unzugängliche Felswand gewesen wäre. Dort habe niemand etwas davon. Hier aber, 500 Meter weiter, auf der Alm, konnte man die Schweiz als Mäuerchen nachbauen, einen Dreispitz hineinstellen und das Resultat als Pilgerstätte begehbar machen. (Dazu gibt es einen Präzedenzfall: Als der Mittelpunkt der kontinentalen USA nach der Einverleibung Alaskas von Kansas - Enzensberger zitierte diese Sehenswürdigkeit 1958 als perfektes touristisches Abstraktum - nach South Dakota verlegt wurde, rückte man ihn eine Meile näher an die Route 85, damit die Besucher ihn mühelos besichtigen konnten.)

Älggi also. Zu dieser Mitte hat das Land gefunden, nachdem sich die Grenzen nach dem Druck vonseiten der Germanen, der Römer und der Helvetier selbst 1815 eingependelt hatten, auf ewig oder was man dafür hält. Man hätte es nicht besser erfinden können, darin sind sich die Obwaldner einig. Hier geht es besonders schweizerisch zu - was immer im Land beschlossen oder abgelehnt wird, in diesem Kanton ist die Mehrheit noch größer, und wenn einer Politiker wird wie Ludwig von Moos, dann gleich zweimal Bundespräsident. Die meisten aber wollen das gar nicht werden, sondern sagen, sie blieben lieber hier und möchten das Älggi, "es Paradiesli", unverändert erhalten, ohne Skizirkus (längst abgelehnt) und auch ohne bäuerliches Freilichtmuseum (die Verhandlungen scheiterten an den Entschädigungsansprüchen von 40 Bauern). Damit bleibt es eine "Ricolakräuterzuckerlandschaft".

Das steht alles in dem genannten Buch

Es ist ein grafisches Kleinod und wieder mal ein Beleg dafür, wie intelligent und sorgfältig man in unserem Nachbarland mit einem Thema umgehen kann, das leicht in den Folklorekitsch abrutschen könnte. Der Kern der Schweiz wird nämlich gerade in seiner Vielschichtigkeit begriffen - wie er sich sozusagen aus vielen Assoziationen herausschält. Ob es zum Beispiel den kernigen homo alpinus überhaupt gibt, wird in einem Beitrag untersucht (verkürzte Antwort: wenn man solche Kriterien schon anlegt, dann entsprechen gerade 1,41 Prozent der Schweizer diesem Typus). Der Fotograf Koni Nordmann hat das Älggi in ruhigen Schwarzweißbildern dokumentiert (siehe diese Seite), sein Kollege Christian Känzig hingegen in Farbe die Menschen, die die Frage "Was ist für Sie der Kern der Schweiz?" beantworteten (etwa Johanna von Flüe, 85, ehemalige Älggi-Wirtin: "Die Zusammengehörigkeit").

Andere topographische Zentren werden beschrieben und gezeigt: im geographischen Europa der Ort Purnuskis in Litauen, in der EU passenderweise die belgische Gemeinde Viroinval. Italien hat nie eines gesucht (bei so vielen Inseln auch kein leichter Job), während Österreich das seine 1949 im Rahmen eines Illustrierten-Quiz erkor; Ergebnis: Bad Aussee - das ergibt auch der Holzplatten-Test.

Die Mitte schließlich als symbolischer, religiöser, philosophischer Begriff: Die Linguistin Ursi Schachermann widmet sich ihm zum Vergnügen des Lesers, erhöht wird dieses durch zarte Zentral-Darstellungen, vom Barockschloss bis zum Seestern.

Und zu allerletzt: eine schwyzerdütsche "Ode an OW". Ich weiß nicht warum. Aber gerade die erfreulichsten Bücher enthalten oft ein Rätsel. (Der Standard/rondo/16/5/2003)