Wir alle kennen die extreme Vielfältigkeit - und himmelschreiende Ungerechtigkeit - mehr oder weniger "guten" Alterns. Wir kennen sterbensnahe Endvierziger und erschöpfte, verkalkte, seelisch erloschene Mitsechziger; aber auch hellwache 96-Jährige, wie den kürzlich verstorbenen Ökonomen Kurt Rothschild und ältere Damen von mädchenhafter Grazie, Lebendigkeit, Schönheit, Klugheit und bezauberndem Charme einer Lotte Tobisch.

Jahrhunderte lang haben wir gelernt, diese Unberechenbarkeit des Alterns als naturgegeben und schicksalshaft hinzunehmen, in Demut vor einem allmächtig-en Schöpfer - in der Neuzeit als Glück oder trostlos grausamen Zufall. Doch in der Moderne bäumt sich alles gegen diese Ungleichheit vor dem Tode und die tiefe Ungerechtigkeit im Altern auf. Wenn "Krankheit kränkt", wie Erwin Ringel unermüdlich unterstrich, wie sehr erst verletzen Altersschwäche und Abhängigkeit von Anderen in Gesellschaften, die Selbständigkeit betonen.

Kein Wunder, dass die Moderne Wissenschaft und Medizin, der Kapitalismus Arbeit und Erwerbsstreben als "Anti-Aging" Mittel entdeckten. Der Volksmund weiss vom "Rasten als Rosten", "your brain, use it or lose it". Doch Verfall durch Unterbeanspruchung, Atrophie durch Inaktivität, Langlebigkeit über 100 Jahre durch harte Arbeit bis ins höchste Alter wissenschaftlich nachzuweisen ist sehr schwer.

Gerade erst wurde Mental Retirement* entdeckt und gezeigt, dass Vorruhestand Gedächtnis und Geist vorzeitig lädiert. Je früher Menschen in den Ruhestand wechseln, desto rascher verfallen mit dem Arbeits- auch das Erinnerungsvermögen und kognitive Fähigkeiten (gemessen mit einer Art PISA-Gedächtnistest für 60-65-Jährige).

Erfüllende Aufgaben und sogar anspruchslose Arbeit dürfte umfassender stimulieren als noch so virtuoses Klavier-, Schach- und Bridgespiel, Kreuzworträtsellösen und Sudoku - man wird Bridgemeisterin, aber nicht rundum kognitiv befähigt. Zudem scheint verbreitete Frühpension vorgezogene "on-the-job-Ruhe-stands"-Effekte, eine Art innerer Kündigung, Desaktivierung und geistigen Verfall Jahre vor dem Ausstieg zu haben.

Vieles ist noch ungeklärt: was genau an welcher Art Arbeit stärkt welche Gedächtnisleistungen? Kann Schwerarbeit umgekehrt kognitiv behindern? Wie belegt ist die Kausalität? Könnte es keine Scheinkorrelation sein? Sind 4,9 Punkte Gedächtnisschwund durch Frühpension bei 11 Pkt Höchstleistung auf einer 20er-Skala plausibel?

Österreich ist übrigens beim PISA für Jungsenioren noch schlechter als dem für Schüler: unter 13 Ländern 8. beim Gedächtnistest aber 13. bei der Inaktivität, 12. beim Jobverlust Älterer und 12. beim kognitiven Abfall der 60-64- gegenüber 50-54-Jährigen als seiner Folge.

Vorerst wurde dieser "Gaga-Faktor" nur für die viel kurzlebigeren und dennoch länger arbeitenden Männer gemessen. Stimmt aber die Hypothese geistigen Niedergangs, so ist für Frauen Schlimmstes zu befürchten - spätestens in einer Generation, wenn eine Million Pensionist/Innen über 80, Demenz eine Massenerkrankung, Frühinvalidisierung überwiegend weiblich und psychisch, und der Frauenüberhang noch höher sein wird.

Nach dem verwirklichten Recht auf soziale Sicherheit, Pension, Muße und Urlaub gewinnt damit auch der Kampf um das Recht auf Arbeit, lebenslange Bildung, Erwerbsfreiheit und sinnvolle Beschäftigung und gegen Früh/Zwangsverrentung im 21. Jhdt eine neue, lebenswichtige, menschenrechtliche Dimension. Doch wer wird diese Kulturrevolution demokratisieren, damit sie nicht das Privileg einer kleinen Klasse sich selbst verwirklichender Künstler, Gelehrter, Wissenschafter, Priester, Freiberufler und Unternehmer/Innen bleibt? (Bernd Marin, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 2./3.4.2011)