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Lässt einen Mann in eine Doppelexistenz und eine Krise taumeln: Joseph Zoderer.

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Ein Mann, verheiratet, Vater von zwei Söhnen, der seine Frau und seine Kinder durchaus liebt, aber der auch eine andere liebt, nicht für die Dauer einer Affäre bloß, sondern in lebenslanger Verstrickung, eine Liebes- und Qualgeschichte also, von deren Sorte es scheinbar tausende gibt, und die sich darüber hinaus nahezu allen Gefahrenmomenten erzählender Prosa tollkühn stellt - wie etwa in der Beschreibung heiler Landschafts-/Bergidylle einerseits und, kontrastierend, der Wahl berühmter europäischer Groß- und Hauptstädte zum Ort der Handlung, dazu noch äußeres Weltgeschehen samt großen politischen Umwälzungen als Teil des Rezeptes: Wie peinlich hätte eine solche Fabel in den Händen eines anderen Autors missglücken können; was für ein kostbares, filigranes, präzises, auf die Fabel im Grunde gar nicht angewiesenes Kunstwerk hingegen Joseph Zoderer mit seinem neuen großen Roman geschaffen hat!

Die Farben der Grausamkeit ist tatsächlich ein großer Roman, unter anderem auch deshalb, weil er der von Hermann Broch geforderten Erkenntnisfunktion dient. Darüber hinaus ist dieser Roman ein solitäres Kunstwerk durch seine geradezu atembenehmend klare Prosa und lyrische Dichte, die gleichermaßen mit Distanz sowie menschlicher Wärme Bild für Bild der Handlung nicht nur erzählt, sondern geradezu zur Welt bringt.

Seit seinen ersten Büchern schreibt Zoderer einen unverwechselbaren, nur ihm eigenen Stil, und in allen seinen Werken geht es um Beschreibungen von Schmerz. Auch das Thema der Identität - in und durch Sprache erfahren - hat in Zoderer einen Pionier des Erhellens und Begreiflichmachens gefunden, genauso wie er in der Schwäche seiner Menschen immer ihre Stärke definiert.

Inhalt und Handlung des Romans müssen nicht unbedingt stets im Detail nacherzählt werden, weil für diesen Autor die Rechtfertigung des Schreibens in der Kunst der Sprache beschlossen liegt. In diesem Sinne gerät sein Werk in die Sehnsuchtsrichtung Flauberts, der stets davon träumte, ein "Buch über nichts" zu schreiben. So sehr die Ästhetik und Musikalität von Zoderers Sprache diesem Ideal nicht ferne stehen, so sehr verankert er jedes seiner Werke in einer zugleich soliden, bodenfesten, den Leser mitreißenden Wirklichkeit.

Richard, Rundfunkredakteur, ist mit Selma, einer Architektin, verheiratet, die ihre eigene Karriere aus Liebe zu ihm und ihren beiden Söhnen Tom und Rik in den Hintergrund stellt. Das Paar hat früher in der Stadt gewohnt, wo sich auch das Rundfunkstudio befindet, in dem Richard für die Morgen- und Mittagsnachrichten verantwortlich ist. Er kaufte jedoch vor kurzem ein jahrhundertealtes, längst unbewohntes und halb verfallenes Bauernhaus in einer entlegenen Berglage, das Paar verbringt seither jede freie Stunde mit der Wiederherstellung des Hauses, was recht eigentlich zum Hauptgeschäft Richards wird. Wir erfahren, dass es sich nicht um eine Flucht aufs Land im üblichen Aussteigersinn handelt, sondern dass Richards Entschluss, die Stadt - wo er in Zukunft nur noch zur Arbeit antreten und nach Dienstschluss wieder die lange Fahrt zurück ins Bauernhaus, zur Familie, unternehmen wird - einen sehr konkreten Anlass hat.

Das Familienglück der Eheleute mit ihren beiden noch kleinen Buben ist nämlich nicht ungetrübt. Richard hat vor einiger Zeit im Studio eine Mitarbeiterin kennengelernt, sie heißt Ursula, und für ihn wird diese Begegnung zur großen Liebe. Er hofft, dass er sich dieser Liebe, die seine junge Familie zu zerstören droht, durch die Übersiedlung aufs Land und die intensive Arbeit am Haus entziehen kann, denn er liebt durchaus auch Selma und seine Kinder. Aber Ursula liebt er unentrinnbar.

Selten hat Zoderer in der Beschreibung des liebezerrissenen Mannes Töne und Worte von solcher (Selbst?-)Anklage gefunden, zugleich enthält keine einzige Seite des Romans erotische oder sexuelle Bezüge, nur der Schmerz des Liebenmüssens wird zum Motor dieser Prosa. Richard beschönigt seine Existenz auch in keiner Weise, er sieht sich vielmehr als Verbrecher, der jedoch weiß, dass er Ursula, die Geliebte, nicht aus seinem Kopf und Herzen reißen kann; sie ist mit und bei ihm, auch wenn er sie seiner Familie zuliebe flieht. Ja, sie treffen sich in der Stadt, sie unternehmen Reisen, von denen Selma nichts ahnt (oder doch?); Richard gerät in seine Doppelexistenz nicht anders, als sich Dante "in der Mitte des Lebens" im dunklen Wald verirrte.

Die oben erwähnten Seins- oder Schmerzringe machen den Roman zu einem Schmerzensbuch, zugleich aber zu einer heilsamen Lektüre. Denn niemals reduziert Zoderers Werk unsere menschlichen Wirrnisse oder Verirrungen zu etwas, das Verurteilung oder Lächerlichkeit zulassen würde. So geht es in diesem neuen Roman eben mit aller Bestimmtheit nicht um einen Mann, der seine Frau betrügt und die Beziehung vor ihr geheim halten will, obwohl die Fabel uns durchaus diesen Mann und seine Geschichte vor Augen führt.

Was kann Richard dagegen tun, dass er ohne Ursula nicht leben zu können glaubt? Liebe, tiefe wirkliche Liebe, ist - mit einem Wort des Schweizer Autors Paul Nizon immer "Liebesvergiftung" -, und schon das mittelalterliche Epos von Tristan und Isolde meint mit dem Liebestrunk und der Verwechslungsfabel nichts anderes als eben die Unausweichlichkeit der Liebe.

Und natürlich ist es in unserer Menschennatur angelegt, zwei Personen zugleich zu lieben; moralische Vorurteile oder verlogene Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Tabus kennt Zoderers Prosa nicht. Herrlich am Roman die erwähnte Ringkonstruktion: Da ist einerseits die Liebe zwischen Richard und seiner Frau, aber ebenso stark die Liebe des Vaters zu den beiden Buben, die er nicht weniger zu betrügen zu vermeint als seine Frau Selma; da ist, im Hintergrund und daher im vordersten Vordergrund, die Liebe zu Ursula, der jungen Kollegin.

Gabe der Beseelung

Um die Magnetkraft dieser als zerstörerisch erkannten Liebe zu brechen, zieht sich Richard mit seiner Familie ja aufs Land zurück, und das Bewohnbarmachen des Hauses wird unmissverständlich zum dritten Liebesring, zu dem u. a. auch das Entdecken und Begreifen der umliegenden Natur gehört. Der Roman beschreibt diese Arbeit der Familie am langsam wohnlich werdenden Haus mit einer Sprache, die in Sanftheit und Hingabe oft geradezu an Stifter gemahnt, und die dem Roman eine Aura des Zeitlosen und des Rettenden verleiht.

Thomas Mann hat geschrieben, dass nicht die Gabe der Erfindung den Dichter ausmache, sondern die Gabe der Beseelung. Eben deshalb ist Joseph Zoderer ein Dichter, und eben deshalb führen Inhaltsbeschreibungen seiner Bücher nicht besonders weit. Richard wird von seiner Radioanstalt die Position eines Auslandskorrespondenten angetragen, und er - unruhig wie er ist - nimmt den Karrieresprung wahr. Seine Arbeit führt ihn nun nach Paris, dann nach Berlin, im historischen Jahr des Mauerfalls, 1989. Abwesenheit, beglaubigt durch Arbeit, aber Selma weiß es besser, sogar die Söhne wissen es besser, sie fühlen sich von ihrem Vater verraten. Diese Spannungen und die Zeit in Berlin füllen den zweiten Teil des Buches.

So sehr dieser und sodann der letzte Teil der Dramaturgie des Romans dienen, so gekonnt das Ganze konstruiert - und eben nicht konstruiert -, so sehr es gefühlt und erlitten wird, so sehr hätte Teil eins doch auch für sich allein bestehen können, als Liebesgeschichte zu einem Haus, um der schwierigen Menschenliebe zu entkommen. Ein wenig hat es sogar den Anschein, als würde mit Teil zwei geradezu ein neuer Roman aus dem ersten emporwachsen; kühn, gelungen, ebenso wie Teil eins in sich vollkommen ist.

In Berlin kommt es dann, schicksalhaft, zur Wiederbegegnung mit Ursula, der ersehnten, verloren geglaubten, lange Zeit vermiedenen, doch stehts begehrten und betrauerten Geliebten. Es ist die Tragik des Sich-entscheiden-Müssens, die Joseph Zoderer wie kein anderer in Sprache umzusetzen weiß, die jeden seiner Sätze zu einer Offenbarung werden lassen. Richard fährt zur Familie, verbringt Weihnachten mit Frau und Kindern, aber, wie er meint, zum Abschiednehmen, was er feige verschweigt. Selma freilich weiß Bescheid. Er verlässt Haus und Familie und fliegt zu Ursula alias Miguela nach Barcelona, wo er meint, für immer bei ihr bleiben zu wollen. Diese Kapitel gehören zum dritten Teil des Buches, sie zu erzählen, würde dem prospektiven Leser keinen Dienst erweisen.

Bewundernswert und einmalig ist Joseph Zoderers Befähigung zum Leuchtendmachen nahezu jedes Satzes, jedes Bildes. Er schafft es nirgendwo in ein Klischee zu fallen, kein Wort ist jemals pathetisch oder am falschen Platz, niemals wird mit Ironie (dem Feind der Kunst) gearbeitet, er findet Satz auf Satz und Seite auf Seite leuchtende Metaphern, er schreibt mit Einsatz und Kraft, die aus diesem Roman alles andere als ein Alterswerk entstehen lassen.

"Er hatte gelebt wie Dschingis Khan, nur ohne Armee", denkt Richard einmal von sich selber in einem Moment der bitteren Selbstanklage. Zoderer lebt wie ein Dschingis Khan des Bestehens auf Wahrheit, er schont sie nicht, er fordert sie wild heraus in seinem Werk, seine Hellwachheit wird damit zur unseren; ein Glück für seine Leser und für die Literatur. (Erich Wolfgang Skwara, DER STANADRD/ALBUM - Printausgabe, 2./3. April 2011)