Zieht man den Kopf heraus, verändert sich durch die Verzerrung die Mimik des Gesichts: Schwellköpfe aus Frankreich (um 1830) aus der Sammlung des Filmemachers Werner Nekes.

Foto: Sammlung Nekes

Krems - Es ist wieder einmal die "Polyfokalität", die Vielansichtigkeit der Dinge, die im Zentrum von Werner Hofmanns Überlegungen steht. Oft erteilte der 1928 in Wien geborene Kunsthistoriker der einen gültigen Sichtweise, der Zentralperspektive, dem fixen Betrachterstandpunkt eine Abfuhr.

Hofmann war bis 1969 Direktor des Museums des 20. Jahrhunderts in Wien und langjähriger Leiter der Hamburger Kunsthalle. In seiner Publikation Die Moderne im Rückspiegel (1998) entwickelte er ein dreiteiliges Bild der Kunstgeschichte: ein Triptychon, auf dessen Flügeln sich Mittelalter und Moderne und im Zentrum die aktuelle Kunst finden. Die vom zentralperspektivischen, faktenorientierten Diktat dominierte Zeit von der Renaissance bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts klammerte er aus: der einansichtige Illusionismus - für Hofmann war er nur ein Zwischenspiel.

Wesensverwandte ...

Und so wundert es nicht weiter, wenn Hofmann in der Ausstellung Ich traue meinen Augen nicht für die Genese der Karikatur bereits im Mittelalter ansetzt, lange bevor sie als Gattung erkannt wurde. Auch der Begriff "caricatura" (von ital. caricare "überladen", "übertreiben") selbst fand sich erst im 16. Jahrhundert für die karikierenden Porträtmalereien der Gebrüder Carraci.

Die Initialen der Buchstaben in mittelalterlichen Handschriften (das Karikaturmuseum zeigt Faksimiles) gehen in ornamentales, pflanzliches, in Fabelwesen oder menschliche Figuren über und beweisen, wie spielerisch, vieldeutig und reich an Fantasie die Kunst jener Zeit war. "In jeder Fabel steckt eine andere", sagte der sogenannte Erzpriester von Hita, Juan Ruiz, im 14. Jahrhundert. Trotz großer Religiosität war die mittelalterliche Kunst freier, als man annimmt; selbst der Kirchenraum war voller Spott und Ironie.

Und diesem freien Geist ist also die Proportionen verzerrende, mehrere Blickwinkel vereinigende und überzeichnende Kunst der Karikatur wesensverwandt. Allerdings handelt es sich bei der Karikatur um eine Gegenkunst. Sie war, das hat Hofmann bereits 1956 in seiner Dissertation Die Karikatur. Von Leonardo bis Picasso festgehalten, ein Gegenentwurf zum Ideal des Schönen.

Wie auch Leonardo da Vinci zählt er zu den ersten Protagonisten dieser widerständigen Randkunst mit dem Mut, die hohen Spielregeln der Kunst zu überschreiten. "Die Ordnung der Zentralperspektive ist ein Terror", sagt Nekes, "eine Fiktionalität mit Blickachsen. Kaum erfunden, wurde sie von ihren Erfindern infrage gestellt". Wer hat die erste Anamorphose (ein verzerrtes Bild, das nur aus bestimmten Blickwinkeln oder mit einem Spiegel oder Prismensystem zu erkennen ist) gezeichnet, fragt Hofmann und gibt selbst die Antwort: da Vinci. Dieser zeichnete einen Kinderkopf so flach wie eine Flunder.

... im Widerständigen

Und so kommt Hofmann in der Schau, die sich als Essenz seiner Kunstgeschichtschreibung lesen lässt, über Beispiele von Dürer, Leonardo und den Caraccis, zur Blüte der englischen Karikatur Mitte des 18. Jahrhunderts und den oft zwischen Drama und Lustspiel springenden Stichen William Hogarths.

Oder zu fantastischen Holzschnitten J. J. Granvilles. Die Schlagschatten heißt eines seiner Blätter von 1830, das seine Komik im Grunde gar nicht durch Verzerrung bezieht. Vielmehr sind die wahrheitsgetreu wiedergegebenen Schatten der Passanten so grotesk: zwei Regenschirmspitzen setzen einem etwa Hörner auf.

Und mit dieser Augentäuschung, die ein wenig an das Höhlengleichnis Platons erinnert, hat man auch den Übergang zur Sammlung Werner Nekes, dem Kokurator der Schau. Denn die meisten Exponate stammen aus der mehr als 25.000 Objekte umfassenden und damit gigantischen Sammlung des deutschen Experimentalfilmers. Ihr Schwerpunkt ist die apparative "Bilderzeugung" und damit auch optische Täuschung. Im Sinne Hofmanns ist auch sie eine anarchische Absage an das Gewohnte, eine Gegenkunst, die sich der Monofokalität versagt. (Anne Katrin Feßler/DER STANDARD, Printausgabe, 30. 3. 2011)