Warum die Haltung der Merkel-Regierung vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Flugverbotszone im Kosovo-Krieg und angesichts der Unüberlegtheit und Überheblichkeit mancher EU-Partner durchaus sinnvoll erscheint.

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Es gibt einige Erfahrungen mit Flugverbotszonen. Der Situation in Libyen am nächsten kommt das Flugverbot, das im März 1999 von der Nato über den Kosovo und Serbien durchgesetzt worden ist. Auch damals sollte die Zivilbevölkerung vor Angriffen, Drangsalierung und Vertreibung geschützt werden. Auch damals war ein Regimewechsel intendiert. Und auch damals wurde der Einsatz von externen Bodentruppen ausgeschlossen. Die Konsequenzen waren alles andere als erfreulich. Beide Konfliktseiten - die UÇK auf albanischer und reguläre Streitkräfte sowie Milizen auf serbischer Seite - wurden durch diese Entscheidung zu einer Eskalation der Gewalt veranlasst. Mit der Nato im Rücken sah sich die UÇK bestärkt, mit bewaffneten Mitteln verschärft gegen serbische Einrichtungen und die serbische Minderheit im Kosovo vorzugehen. Die serbischen Milizen und Armeeangehörigen nahmen blutige Rache an Albanern und starteten massive Vertreibungskampagnen. Aus der Luft war diese Eskalation nicht nur nicht zu stoppen; sie nahm immer schlimmere Ausmaße an.

In den 77 Tagen des Flugverbots kam es zu einem erbittert geführten Bürgerkrieg. 12.000 bis 14.000 Albaner und etwa 5000 Serben kamen ums Leben - zehnmal so viel wie zuvor in den zehn Jahren gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Serben und Albanern im Post-Tito-Jugoslawien. Etwa 700.000 bis 800.000 Albaner wurden in der Zeit des Flugverbots von den serbischen Milizen vertrieben. In der Absicht, Belgrad zum Aufgeben zu zwingen, sah die Nato keine Alternative, als die Bombardements zu verstärken. Die Allianz ging von der Ausschaltung serbischer militärischer Einrichtungen, Kommandozentralen und Regierungsgebäude sukzessive zur Zerstörung "strategischer Objekte" über, angefangen bei Brücken und endend bei Elektrizitätswerken.

Die Folge war eine weitgehende Vernichtung der Infrastruktur in Serbien, dem damals noch zugehörigen Montenegro und im Kosovo selbst. Ungefähr 500 zivile Opfer gab es infolge von "Kollateralschäden" der Nato-Einsätze. Nach dem Krieg wurden dann noch etwa 200.000 Serben, Roma und Angehörige anderer Minderheiten von den Anhängern der UÇK vertrieben. Ein selbsttragender Staat ist Kosovo bis heute nicht, und für dieses Land, das ungefähr so groß ist wie Kärnten, wendet der Westen nach wie vor erhebliche personelle und finanzielle Mittel auf. Der serbische Präsident Milošević wurde erst anderthalb Jahre später, im Oktober 2000, nach neuerlichen Präsidentenwahlen, zum Rückzug gezwungen - von der serbischen Opposition, nicht von auswärtigen Streitkräften.

Dabei hatten die Interventen im Kosovo noch erhebliche Vorteile im Vergleich zu Libyen. Das beginnt bei der Parteinahme. 90 Prozent der Bevölkerung - die Albaner - wünschten sich die Intervention und drängten sogar darauf, dass auch Bodentruppen geschickt würden. Der Westen wusste zumindest politisch, mit wem er es zu tun hatte, als der Emissär der US-Regierung für Kosovo, Richard Holbrooke, im Juni 1998 die UÇK, die zuvor von Washington als Terrororganisation eingestuft worden war, als "Befreiungsarmee" anerkannte. Außer bei den paar Prozent Serben stieß die Belgrader Dominanz im Kosovo auf ungeteilte Ablehnung. Der serbischen Regierung war klar, dass sie die Provinz Kosovo, aber nicht die Herrschaft in ganz Serbien verlieren würde, wenn sie einlenkte. Die Nato stand geschlossen hinter der Intervention und hielt diese Geschlossenheit bei allen Querelen, die während des Krieges auftauchten, bis zur Kapitulation Belgrads aufrecht.

Längerfristig konnte man beiden Konfliktparteien die Aussicht auf eine Integration in die EU anbieten, wenn die Konflikte künftig friedlich bewältigt würden. Die EU konnte auf das Interesse großer Bevölkerungsteile auf dem gesamten Balkan rechnen, zu Europa zugehörig und nicht exkludiert und isoliert zu sein. Und die Vorteile enden beim Umfeld: Praktisch alle Nachbarn wollten Nato- und EU-Mitglieder werden, und viele wurden es auch. Das übte und übt eine positive Wirkung auf die Entwicklung zwischen Serben und Kosovo-Albanern aus.

Konfuse Ermächtigung

Von all dem gibt es in Bezug auf Libyen praktisch nichts. Es existiert eine unstrukturierte, diffus zusammengesetzte, bewaffnete Rebellengruppe, die einen kleinen Teil des Landes kontrolliert. Offenkundig wird Gaddafi von Teilen des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Bevölkerung unterstützt. Im Gegensatz zu Milošević in Europa am Ende der 1990er-Jahre hat der libysche Potentat Anhänger auch in diversen arabischen und afrikanischen Staaten. Weder die EU noch die Nato noch die Arabische Liga oder die Afrikanische Union sind sich über Ausmaß, Reichweite und Ziel der militärischen Intervention einig.

Es gibt noch weniger als 1999 im Kosovo einen Plan, was passieren soll, wenn die Gewalt weiter eskaliert und der Bürgerkrieg fortdauert. Libyen ist fünfmal so groß wie Deutschland. Die Sicherheitsratsresolution, die den Einsatz völkerrechtlich legitimiert, ist eine konfuse, unüberlegte Ermächtigung, die außer dem Nichteinsatz von Bodentruppen, mit dem also Gaddafi jedenfalls vorläufig so wenig rechnen muss wie ehedem Milošević, praktisch alles erlaubt und alles offen lässt - mit kaum abschätzbaren Konsequenzen nicht nur für die humanitäre Lage in Libyen und für die Entwicklung im arabischen Raum und in Nordafrika, sondern auch für Europa und den Westen.

Die selbstgewählte Verengung politischer Handlungsmöglichkeiten durch die im Fall Libyens neu zusammengesetzte "Koalition der Willigen" weist im Übrigen deutliche Parallelen auch in den Entscheidungsdynamiken auf, wie sie vor nicht einmal zehn Jahren in Bezug auf Afghanistan und Irak zu beobachten gewesen waren. Damals war Paris erheblich vorsichtiger gewesen, aber damals hatte Frankreich auch eine andere Regierung. Der heutige Präsident Sarkozy hatte die Entscheidung, nicht mit den USA und Großbritannien in den Irak einzumarschieren, heftig kritisiert. Jetzt sah er offenbar seine Chance gekommen. Er und Premier Cameron haben andere Auffassungen in der Nato wie in der EU einfach beiseitegewischt, als sie ihre wenig durchdachte, vor allem innenpolitisch und persönlich motivierte Entscheidung getroffen haben.

Wenn die deutsche Enthaltung im Sicherheitsrat indirekt auch eine Erwiderung auf die Arroganz einiger europäischer Politiker war, sich selbstherrlich über Partner und gemeinsame Institutionen hinwegzusetzen, diese dann aber für die eigene Politik und persönliche Ambitionen instrumentalisieren zu wollen, dann war sie, lieber "entsetzter" Joschka Fischer*, auch von daher gerechtfertigt und notwendig. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.3.2011)