Sie kämpfen unter einer neuen Fahne für den Sturz des despotischen Regimes - aber woher nehmen wir die Gewissheit, dass es dabei um Demokratie im Interesse des Landes und nicht um bloße Stammesinteressen geht?

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David Kirkpatrick, Büroleiter der Times in Kairo, hat letzte Woche in einem Artikel aus Libyen die Schlüsselfrage bei all den neuen Revolutionen in der arabischen Welt, nicht nur der libyschen, aufgeworfen - eine Frage, die "von dem Moment an in der Luft lag, als der erste Panzerkommandant zu seinen protestierenden Cousins in den Straßen von Bengasi überlief: Geht es im Kampf um Libyen um die Konfrontation zwischen einem brutalen Diktator und demokratischer Opposition oder um einen Stammeskrieg?"

Diese Frage ist deshalb so entscheidend, weil es im Mittleren Osten zwei Arten von Staaten gibt: "echte Staaten" mit einer langen Geschichte und starken nationalen Identitäten (Ägypten, Tunesien, Marokko, Iran) und solchen, die man Stämme mit Staatsflagge nennen könnte - eher künstliche Gebilde, deren Grenzen einst die Kolonialmächte auf dem Reißbrett gezogen haben, die dann x Stämme und Sekten zusammenschlossen, die nicht nur gegen ihren Willen zusammenlebten, sondern auch nie Anstalten gemacht haben, sich zu einer Familie von Staatsbürgern zu vereinigen. Das gilt für Libyen, den Irak, Jordanien, Saudi-Arabien, Syrien, Bahrain, den Jemen, Kuwait, Qatar und die Vereinigten Emirate. Diese allesamt aus Stämmen und Sekten bestehenden Staaten wurden über Jahrzehnte mit eiserner Faust von Kolonialherren, Königen oder Militärdiktatoren zusammengehalten, ihre Bewohner sind keine "Staatsbürger" im modernen Sinn, und ein demokratischer Machtwechsel ist unmöglich, weil jeder dieser Stämme nach dem Grundsatz agiert "Herrschen oder sterben" .

Es ist kein Zufall, dass die demokratischen Revolten im Mittleren Osten in drei der echten Staaten - Iran, Ägypten, Tunesien - ausgebrochen sind, die über eine moderne Bevölkerung verfügen mit großen homogenen Mehrheiten, die das nationale Interesse über das des Stammes stellen und genug wechselseitiges Vertrauen haben, um sich wie eine Familie zusammenzuraufen: "Alle gegen Papa." Aber ab dem Moment, da diese Revolutionen sich auf die eher tribalistisch bestimmten Länder ausgebreitet haben, ist es schwierig geworden zu unterscheiden, wo der Ruf nach Demokratie aufhört und der Wunsch nach dem "Unser Stamm übernimmt jetzt von eurem die Macht" beginnt.

In Bahrain z. B. regiert eine 30-prozentige sunnitische Minderheit über die schiitische Mehrheit. Viele Bahrainer sind zwar durch Heirat sowohl als auch - sogenannte "Sushís" , die moderne politische Identitäten entwickelt haben und demokratische Verhältnisse akzeptieren würden. Aber es gibt viele andere Bahrainer, die das Leben als eine endlose Abfolge sektiererischer Kriege betrachten, einschließlich der Hardliner in den regierenden Kalifenfamilien, die keine Lust haben, die Zukunft der bahrainischen Sunniten unter einer schiitischen Mehrheitsherrschaft aufs Spiel zu setzen. Das ist auch der Grund, warum man dort früher zu den Waffen gegriffen hat. Es ging um Leben (=Herrschen) oder Tod.

Am Beispiel Irak wird deutlich, was es alles braucht, um ein großes arabisches Stammesland zu demokratisieren, sobald der Eisenfaust-Diktator gestürzt wurde (in dem Fall von uns). Man braucht Milliarden von Dollar, 150.000 US-Soldaten als Kampfrichter, unzählige Verluste, einen Bürgerkrieg, bei dem jede Partei die Stärke des anderen austesten will, und einen langwierigen Prozess, bei dem wir Geburtshelfer spielten, bis die Stämme und Splittergruppen sich schließlich auf eine Verfassung einigten, die festlegt, wie sie ohne Eisenfaust künftig zusammenleben wollen.

Die Irakis zu so einem Abkommen befähigt zu haben war wohl Amerikas größtes Verdienst. Hier ging es tatsächlich um das größte liberale Experiment in der modernen arabischen Geschichte, weil es zeigte, dass selbst ein Stammesgebilde mit Staatswappen sich in eine moderne Demokratie wandeln kann. Wenngleich das immer noch nicht mehr als eine Hoffnung ist. Denn nach wie vor steht die Antwort der Irakis auf ihre Schlüsselfrage aus: Ist der Irak so, wie er ist, weil Saddam so war, wie er war, oder war Saddam, wie er war, weil der Irak so ist, wie er ist - eine Stammesgesellschaft. All die anderen arabischen Staaten, in denen nun Rebellionen stattfinden - Jemen, Syrien, Bahrain und Libyen -, sind im Prinzip Irak-ähnliche Bürgerkriege auf Abruf. Vielleicht haben ja einige das Glück, dass ihre Armee eine lenkende Funktion in Richtung Demokratie übernimmt - aber man sollte nicht darauf wetten.

Anders gesagt: Libyen ist nur der Vorbote einer Reihe von moralischen und strategischen Dilemmata, mit denen wir konfrontiert sein werden, wenn sich die arabischen Revolutionen weiter über die "Stämme mit Fahnen" ausbreiten. Ich will gegenüber Präsident Obama nachsichtig sein: Die Sache ist kompliziert, und ich respektiere seinen Wunsch, einen Massenmord in Libyen zu verhindern. Aber wir müssen vorsichtiger sein: Was die ägyptische Revolutionsbewegung so mächtig machte, war ihre Eigenständigkeit. Der Freiheitskampf hat hunderte Opfer gefordert. Und wir sollten doppelt vorsichtig sein, in Ländern zu intervenieren, die, wie im Fall Irak, unter unseren Händen auseinanderfallen - insbesondere dann, wenn wir, wie im Fall Libyen, nicht wissen, wer die Opposition wirklich ist: demokratische Bewegungen, die von Stämmen geführt werden, oder Stämme, die die Rede von der "Demokratie" instrumentalisieren?

Schlussendlich können wir uns das, traurigerweise, auch gar nicht leisten: Wir müssen uns um unser eigenes Land kümmern. Wenn der Präsident zu großen, schwierigen und drängenden Entscheidungen bereit ist, sollten diese dann nicht vorrangig dem Nation-Building in Amerika statt in Libyen dienen? Sollte er nicht primär eine wirksame Energiepolitik forcieren, die alle Gaddafis dieser Welt schwächen würde, und eine Budgetpolitik, die den amerikanischen Traum auch noch für die nächsten Generationen sichert? Erst wenn das gelungen ist, werde ich dem Präsidenten gern "von den Hallen Montezumas bis an die Strände von Tripolis" folgen. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.3.2011)