Jelenas Situation ist in vielerlei Hinsicht verfahren. Der Asylantrag der jungen Kosovo-Serbin wurde abgewiesen, jetzt wartet sie auf das Ergebnis ihres Verfahrens vor dem "Jüngsten Gericht", wie der österreichische Asylgerichtshof in Ludwig Lahers neuem Roman Verfahren genannt wird.

Die Wahl des mehrdeutigen Titels weist bereits auf das Spannungsverhältnis von Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit hin, in dem sich die schwer traumatisierte Jelena befindet. Als Angehörige der serbischen Minderheit wird ihre Familie Opfer von Brandanschlägen. Der siechende Tod der Mutter und schreckliche Gewalttaten "von enthemmten Mitgliedern der Mehrheitsbevölkerung" treiben sie an den Rand des Suizids. Psychologen raten ihr, nach Österreich zu fliehen, um einen Neuanfang zu wagen. Dort geht man mit der Asylwerberin nicht zimperlich um. Ein behördlicher Hürdenlauf beginnt, der in die zermürbenden Mühlen einer launenhaften Justiz führt.

Der 1955 in Linz geborene Ludwig Laher erzählt in seinem Roman nicht allein Jelenas Lebens- und Leidensgeschichte, sondern dringt auf vielfältige Weise in das österreichische Asyl- und Fremdenwesen ein, das wie kaum ein anderes Thema hierzulande im Mittelpunkt öffentlicher Debatten steht und sich angesichts steter Neuordnungen auf immer komplexere Weise zeigt.

Der wertvolle Beitrag Lahers hebt die Kontroverse auf eine literarische Ebene und entwirft Lebenswelten, in die sich der auktoriale Erzähler im Wechselspiel sprachlicher Ausdrucksweisen begibt. Kommentare und Reflexionen sowie reportagehafte Darstellungen erzeugen eine unheimliche Dichte. Durch die zeitweise Verwendung des Protokollstils im Sinne Albert Drachs kommt die haarsträubende Logik und Umständlichkeit des Amtsdeutsch zum Tragen.

Der Roman, mit Dokumentarelementen ausgestattet, bewegt sich auf mehreren Ebenen: In langen Monologen plaudert der mit "göttlicher Allmacht" ausgestattete Asylrichter Dr. Zellweger ungezwungen über seine Arbeit und gibt sich großmütig, wenn er um das nötige Gespür im Umgang mit "Beschwerdeführern" weiß und "Ermessungsfragen" bei kniffligen Verfahren auslotet. Er, herzlich, aber hart, kritisiert zuweilen Gesetzgeber und politischen Erwartungsdruck und rühmt sich, auch mal positiv zu urteilen. Wie handelt er in Jelenas Fall?

Mit seiner akribischen Recherchearbeit hat Laher auch eine Brücke in die Vergangenheit geschlagen. In der zunächst irritierenden Geschichte des Juden Kurt, der 1938 vor den Nazis fliehen konnte und nun als alter Mann in Kanada lebt, werden Parallelen hinsichtlich Diffamierungen von Minderheiten angedacht.

Es ist kein Roman, der sich schnell in einem Zug lesen lässt. Trotzdem kann man sich dem gewaltigen Lesesog, den er auslöst, schwerlich entziehen. Mit Handlungsunterbrechungen hält Laher die Komplexität der Asylthematik vor Augen, erhebt jedoch weder didaktische Ansprüche noch holt er zu einem Rundumschlag gegen Justitias Erbe aus.

Das Buch ruft auf subtile Art Empörungslust hervor, die durch Stéphane Hessels Aufsatz Empört euch! wieder en vogue ist. Das klingt moralisch und altmodisch, kann in Zeiten der Fremdenfeindlichkeit aber nicht hoch genug eingestuft werden. Und Jelena, die ihr Leben "als einen einzigen Kampf empfindet"? Ihr Schicksal weist über Verfahren hinaus, denn: "Gibt es einen vernünftigen Grund, dass es der Leserschaft besser gehen soll als ihr?" (Sebastian Gilli, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 26./27. März 2011)