Felix de Mendelsohn, "Die Gegenbewegung der Engel. Psychoanalytische Schriften zu Kunst und Gesellschaft". Bd. 1: "Das psychoanalytische Subjekt". Bd. 2: "Schriften zur psychoanalytischen Theorie und Technik". Jeweils € 39,-; SFU-Privatuniversität-Verlag Wien 2010.

Foto: SFU-Privatuniversität-Verlag Wien

Womit beschäftigt sich ein Psychoanalytiker, wenn er den geschützten Beziehungsraum hinter der Couch verlässt? Mit Kunst, Philosophie und Religionen, jenen Bereichen, die Sigmund Freud zu den Rivalen der Psychoanalyse erklärt hatte.

Das gilt jedenfalls für Felix de Mendelssohn, Vorstand der Psychoanalytischen Abteilung der SFU-Sigmund-Freud-Privatuniversität. Die Gegenbewegung der Engel und Das psychoanalytische Subjekt nennt er seine, in zwei Bänden gesammelten Vorträge und Texte aus früheren Jahren und jüngster Zeit. Sie ergeben eine anspruchsvolle, in mehrere Themenkreise gegliederte Auseinandersetzung mit unserer Kultur, die von Mozart über die Auswirkungen der Judenvernichtung bis zu aktuellem Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit reicht und auch eine kritische Position gegenüber einer Psychoanalyse als Religionsersatz nicht ausspart.

Das gilt vor allem für den ersten Band mit "Psychoanalytischen Schriften zu Kunst und Gesellschaft", der hier besprochen wird - der zweite enthält fachspezifische "Schriften zur psychoanalytischen Theorie und Technik". Mendelssohns Zugang zur Kulturinterpretation ist beispielsweise das Aufspüren von Gemeinsamkeiten künstlerischer Zeitgenossen Sigmund Freuds wie Richard Strauss, James Joyce oder Arnold Schönberg.

Schönberg und seinem unvollendeten Oratorium Die Jakobsleiter hat der Autor ein Kapitel gewidmet, das dem Buch auch den Titel geliehen hat. Hier arbeitet Mendelssohn Querverbindungen zwischen Schönbergs Werk und Leben heraus und illustriert, wie sich dessen persönliche Erfahrungen in der Musik ausdrücken und wie die Entfaltung der Zwölftonmusik mit Sigmund Freuds Idee der Triebtheorie zusammenfiel. In jenem Jahr, in dem (der spätere Zionist) Schönberg, der damals bittere antisemitische Erfahrungen machten musste, mit dem Niederschreiben der Jakobsleiter begann, veröffentlichte Freud seinen neuen Denkansatz Zur Einführung in den Narzissmus.

Die neuen musikalischen Formprinzipien der Jakobsleiter interpretiert der Autor als symbolische Verbindung von Musik und Judentum: Die Zwölf Stämme Israels, die aus dem letzten Patriarchen Jakob hervorgingen und die zwölf musikalischen Töne, die sich frei entfalten, "fruchtbar werden und sich vermehren und endlich in die ersehnte Heimat zurückkehren." Überhaupt erlaubt seine psychoanalytische Sichtweise den fremden Blick auf vertraute Inhalte und zeigt, wie sich die Welt mit einem Standortwechsel wieder neu entdecken lässt.

Nicht immer ist es leicht, den klugen, komplexen und für Laien oft komplizierten Überlegungen Mendelssohns zu folgen. Man muss sich wirklich auf die Texte einlassen, um mit dem Autor die Seelenlandschaften der Musik, des Tanzes, des Theaters und der Literatur, aber auch des Unheimlichen und des Verdrängten zu durchwandern. Er komponiert einen Reigen kulturrelevanter An- und Einblicke, die den Leserinnen und Lesern zugleich das Wesen und die Arbeitsweise der Psychoanalyse näherbringen: das Konzept der psychoanalytischen Sitzung als interaktive Bühne für innere Bilder, auf der die Figuren, die aus unbewussten Tiefen der Erinnerung auftauchen, einander begegnen und miteinander in einen heilsamen Dialog treten - unter dem Motto "Erinnern, Durcharbeiten, Loslassen".

Und das ist wohl die Gemeinsamkeit der Psychotherapie mit allen Formen der Kunst: das Sprachefinden, das Er-Schreiben, Er-Singen, Er-Muszieren oder Er-Spielen der Einsicht in sich selbst und die Welt. Auch Mendelssohns Ausflüge in biblische Mythologien, in die familiären Verstrickungen antiker Helden und Heldinnen - von Medea bis Orest - und die nachfolgenden Verkettungen machen die psychoanalytische Arbeitsweise oder die archaischen Muster seelischer Vorgänge und menschlicher Handlungen gut nachvollziehbar.

Anschaulich vermittelt er, wie Aristoteles' Forderung, durch die inszenierte Tragödie "Furcht und Mitleid" im Zuschauer zu erwecken, in der Arbeit der Psychoanalyse ihre Entsprechung findet. "Ängste und deren unbewusste Inhalte zu erforschen und Mitleid bzw. Mitgefühl zu ermöglichen, ein Mit- und Einfühlen in den Anderen gehören zu den Grundprinzipien unserer Arbeit", schreibt Mendelssohn im Kapitel "Gesang, Tanz und Theater".

Um zur Musik zurückzukehren: Ihr widmet der Autor breiten Raum voller literarischer Bilder und intensiv beschriebener Klangwelten, die eine psychoanalytische Sitzung atmosphärisch fühlbar machen. Er vergleicht die Qualität der Immaterialität und der Zeitentgrenzung von gespielter Musik mit psychoanalytischen Prozessen, mit dem sorgsamen Hören auf Stimme und Tonfall, auf die Melodie hinter den Worten und darauf, was sie im eigenen Inneren erklingen lässt: "Lärm, Geräusch, Störung und Stille sind wie Tempo, Tonfall und Akzent, Rhythmus, Kontrapunkt und Dissonanzauflösung erlebte und empfundene Aspekte der Kommunikation zwischen Analytiker und Analysand."

So wie in der mittelalterlichen Kirchenmusik oder später in der romantischen Sehnsuchtsmusik kommt im psychoanalytischen Setting dem Schweigen eine besondere Bedeutung zu, weil Worte sich auf den Weg zu unbenannten Affekten begeben können, weil es in den Raum vorsprachlicher Erfahrungen vordringt und die Wiederkehr des Verdrängten ermöglicht wird.

Das Schweigen ist die Grundmelodie des Buches: nicht nur als Technik, sondern auch als Defizit im Sinne eines Vergessenwollens oder Verdrängens - in Zusammenhang mit den "Erben der Vernichtung", der "Vergangenheitsaneignung" und im Kapitel über eine Psychoanalyse der Aufklärung und ihrer Rolle als Begleiterin individueller und kollekti-ver Arbeit an Schuld, Scham und Trauer. Es gelte, so Mendelssohn, "sich das Verlorene zu vergegenwärtigen und sich bewusst zu lösen, damit die Vergangenheit die Gegenwart nicht in ihrem Bann hält." (Sibylle Fritsch, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 26./27. März 2011)