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Jugendliche fotografieren einander vor der "Peace Wall" in Belfast, zu der politische Führungen veranstaltet werden.

Informationen: www.coiste.ie

Foto: Peter Morrison / AP

Poff! Der Schneeball zerplatzt an der Mauer. "Die Waffenruhe ist vorbei!", schreit ein Bub mit Wollmütze und adretter Schuluniform. "Frieden! Frieden!", kreischen zwei kleine Mädchen, aber es ist zu spät: Ein Schneeballhagel geht auf sie nieder. Halb amüsiert, halb betreten steht unser Führer Ben daneben - schließlich befinden wir uns an einem Gedenkort. Eine Plakette aus schwarzem Granit an der Mauer listet die Namen der "Aktivisten", die in der Zeit des Nordirland-Konflikts ums Leben kamen - auf irisch-republikanischer Seite, schließlich befinden wir uns im katholischen Stadtteil Falls Road. Die Protestanten haben ein eigenes Memorial, auf der anderen Seite der Mauer.

Die Mauer: Das sieben Meter hohe Ungetüm aus Ziegelstein und Stahl ist ein Teil der sogenannten "Peace Line", die seit 1969 die ärmeren katholischen und protestantischen Stadtteile Belfasts voneinander trennt. Die fröhliche Schneeballschlacht ist eine rein katholische, denn auch zwölf Jahre nach dem Karfreitagsabkommen, in dem beide Seite ihren Frieden miteinander gemacht haben, gibt es nicht allzu viele Kontakte zwischen den Bewohnern der einst verfeindeten Viertel.

Fotos an der Mauer zeigen ausgebrannte Reihenhäuser und Doppeldeckerbusse, die als Barrikaden quer über die Straße liegen. Das war in den 1970er-Jahren, zur schlimmsten Zeit der sogenannten "Troubles". Doch die Gärten der bescheidenen Reihenhäuser, die unmittelbar an die Mauer grenzen, gleichen auch heute noch Stahlkäfigen - ein Schutz vor Steinen und Brandsätzen, die Unbelehrbare über die Mauer werfen könnten. Von einem Rückbau der "Peace Line" wollen die meisten Anwohner nach wie vor nichts wissen, noch immer werden zwei der fünf Stahltore in der Mauer jeden Abend um neun Uhr geschlossen. "Wir fühlen uns sicherer damit, vor allem nachts", sagt Ben. "Die Mauer gibt uns Stabilität, es wäre verfrüht, sie zu demontieren."

Der 42-Jährige, der mit seinen markanten Zahnlücken und Gesichtsfalten zehn Jahre älter aussieht, war in seiner Jugend selbst in so manche Auseinandersetzung verstrickt - worin genau, mag er nicht sagen. Heute fährt er Belfast-Besucher in einem der legendären "Black Taxis" durch beide Viertel und erzählt, fast schon im Reiseführer-Singsang, vom "longest running conflict" in Europa, von den technischen Daten der Mauer und von den Geschichten, die sich hinter den Namen auf der Gedenkplakette verbergen. "Black Taxis" - das sind alte Londoner Cabs, die in den 1970er-Jahren den öffentlichen Verkehr in den Vierteln aufrechterhielten, weil die städtischen Busse als potenzielle Anschlagsziele ihren Dienst eingestellt hatten.

Diese Heftigkeit der Auseinandersetzungen ist mittlerweile Geschichte. In der Innenstadt Belfasts hat sich die Situation seit dem Karfreitags-Abkommen dramatisch verbessert, die alte Hafenstadt hat ihre Reize neu entdeckt. Dass es in den ehemaligen Problemvierteln wie Falls Road und Shankhill noch nicht ganz so entspannt zugeht, tut dem anschwellenden Touristenstrom keinen Abbruch. Im Gegenteil: Die Mauer und vor allem die "Murals", die zahlreichen politischen Wandgemälde, sind dabei, zur führenden Touristenattraktion Belfasts zu werden. "Im Sommer reißt der Strom der ,Black Taxis' nicht ab", erzählt Ben.

Ist so eine Tour nun Bürgerkriegsvoyeurismus? Seamus Kelly von der irisch-republikanischen Organisation Coiste nimmt den meisten Besuchern ihr echtes Interesse ab. Der drahtige Mittfünfziger mit dem graumelierten Kurzhaarschnitt ist ein ehemaliger "Aktivist", der lange Jahre im berüchtigten Maze-Hochsicherheits-Gefängnis interniert war. Mittlerweile hat er sich ganz der Versöhnungsarbeit verschrieben. Mit Coiste organisiert er Treffen mit den ehemaligen Feinden. Bei einem Becher Tee im gälischen Kulturzentrum Culturlann an der Falls Road erzählt er, wie schwer es den meisten - auch ihm - nach wie vor fällt, den ehemaligen Feinden zu begegnen. Das stetig wachsende Interesse der Touristen bietet da beiden Seiten eine willkommene Möglichkeit, ihre Geschichte darzustellen - und nötigt sie zugleich zur Kooperation. Zu Kellys Aufgaben gehört, Führer für die "Politischen Touren" zu rekrutieren, die zu den wichtigsten Schauplätzen der "Troubles" in Belfast führen. "Unsere Guides sind lebende Geschichte", sagt Kelly. (Olaf Tamars/DER STANDARD/Printausgabe/19.03.2011)