"Zeitungen sind der Kitt unserer Gesellschaft", sagte Helmut Heinen, Präsident des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), zur Eröffnung des Zeitungskongresses 2010 in Essen mit Blick auf das Wohlwollen von Politik und Wirtschaft.

Dabei wirkt Prof. Claus Eurich wie der ungenannte Kronzeuge, der dieser These einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen scheint und in einem angeblichen "Masseneremitentum" eine Bedrohung für die Demokratie sieht, wie in DerWesten zu lesen ist. Springer-Chef Mathias Döpfner schlug zur Online-Marketing-Fachmesse dmexco, mit einer fast schon poetisch anmutenden Marginalie, in die gleiche Kerbe.

Eine Sprache, die Außenstehenden unzugänglich ist

"Wenn Sie alle einen anderen Blog gelesen haben, werden Sie nichts mehr haben, worüber Sie sich unterhalten können." Mathias Döpfner. Zeitungen, und dabei möchte ich Herrn Heinen zugestehen, gleichfalls digitale Pendants zu meinen, bedienen Emotionen wie Freude, Angst, Wut oder Trauer, aber auch Neid, Missgunst oder Schadenfreude. Damit liefern sie den Klatsch, über den man gerne spricht, der einem als Einstiegshilfe in Gespräche durchaus dienlich sein kann. Sicher liefert Journalismus auch Tiefgründiges, doch würden Sie bei einer ersten Begegnung mit Ihrem Interesse für Weltraumlifte aufwarten?

Derartige Inhalte eignen sich eher zur Isolierung von anderen, oder zur Stärkung von Bindungen zu solchen, die dieses Interesse teilen. Wer kennt sie nicht, die Jugendlichen, die sich über so Spezielles unterhalten, dass nur sie sich verstehen? Wohl möglich in einer Sprache, die Außenstehenden unzugänglich ist. Sie teilen einen Satz von Interessen, aber auch Wertevorstellungen, während sie gleichzeitig versuchen, die ihrer Eltern infrage zu stellen, um sich damit ihnen gegenüber abzugrenzen. Oder Wissenschaftler, bei denen das Fachchinesisch zwar eine abgrenzende Wirkung hat, gleichzeitig aber fachspezifische Kommunikation erleichtert wird, da die Begrifflichkeiten in diesen Kreisen bekannt sind.

Die Einfachheit sozialer Netzwerke lässt die Nutzerzahlen explodieren

Man mag dies als Phänomene einer funktionalen Differenzierung verstehen, aber lässt sich daraus eine gesellschaftliche Fragmentierung herleiten?

Dem gegenüber steht eine wachsende Zahl vom Menschen, die mit einem inflationären Begriff von Freundschaft in sozialen Netzwerken Hunderte, gar Tausende "Freunde" horten, Menschen, die sich im Schwarm organisieren und sich ohne digitales Endgerät von ihm abgeschnitten fühlen.

Als Stanley Milgram 1967 sein "Small World"-Experiment durchführte und als es 2003 und 2006 in adaptierter Form wiederholt wurde, wurden zwischen sechs und sieben Ecken festgestellt, über die sich die Menschen so kennen. Im Jahr 2006 hatte Facebook gerade mal zwölf Millionen Mitglieder. Heute sind es etwa 50-mal so viele Mitglieder und jede neu geknüpfte "Freundschaft" führt zu einer Verkürzung der Wege im Graphen.

Soziale Netzwerke bieten eine Infrastruktur, in der die sozialen Graphen ihrer Mitglieder abgebildet sind und über die Informationen schnell und selbstbestimmt* verbreitet werden können. Sicher gibt es andere Möglichkeiten, Inhalte zu verbreiten, aber die Einfachheit der Nutzung und Netzwerkeffekte führten in den vergangenen Jahren zu einer Explosion der Nutzerzahlen.

Vielleicht sollte man zwischen horizontaler und vertikaler Integration unterscheiden. So haben einerseits emotionale und seichte Inhalte den Vorteil, eine breitere Masse zu berühren. Im Netz verbreiten sich solche Inhalte - etwa niedliche Katzenbilder, schräge Unfälle oder süße Babys - schon mal viral. Und braucht es dann zur Verbreitung von Boulevard tatsächlich Verlage oder langt nicht einfach der ein oder andere Perez Hilton?

Zumal Prominente selbst bereits angefangen haben, Social-Media-Manager für sich einzustellen. Andererseits, bezogen auf die vertikale Integration, liegt hier der Fokus auf einzelnen Themen, welche im Idealfall in einem Umfeld angesiedelt sind, welches sowohl Einsteiger als auch Experten an sich bindet. Und genau hier liegen die Stärken eines bidirektionalen Mediums wie dem Internet, welches über räumliche und zeitliche Distanz Menschen mit sehr speziellen Themen zusammenführt, die vor Jahren nie zueinandergefunden hätten.

Heinen übertreibt maßlos

Jegliche Versuche, Paid-Content-Modelle einzuführen, laufen Heinens Aussage, der "Kitt der Gesellschaft" zu sein, zuwider, da in der horizontalen Dimension Teile der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Gleichzeitig bedienen die Verlage die vertikale Dimension nur in Teilen, weil journalistischer Aufwand kostspielig ist und tief greifende Analysen nur an ein kleines Publikum von Experten adressiert werden könnten. Daraus ergibt sich eine fehlende Massenkompatibilität, die mit einer schlechteren Vermarktbarkeit einhergeht.

Zu Herrn Heinen bleibt abschließend zu sagen: Er übertreibt maßlos. Es scheint, als müsste man den Bedeutungsverlust zumindest rhetorisch kompensieren. Aber wie die "Berliner Erklärung" oder die Diskussion um ein Leistungsschutzrecht für Presseverleger zeigen, lassen die Verleger derzeit nichts unversucht, um mit fadenscheinigen Behauptungen politische Entscheider für sich zu gewinnen.

*So sie nicht gegen die Nutzungsbedingungen der jeweiligen Plattform verstoßen. (derStandard.at, 20.3.2011)