"Ich hatte keine Ahnung von Politik, doch als ich den isländischen Premierminister im Fernsehen sah, als er nach dem Zusammenbruch der Banken Gott anrief, Island zu segnen, dachte ich mir: Das kann nicht sein!" (Gnarr)

Foto: derStandard.at/tinsobin

Kunst und Kreativität können das ökonomische "Tauwetter" beschleunigen, ist Gnarr überzeugt.

Foto: derStandard.at/tinsobin

Der Bürgermeister stellt sich den Fragen des Publikums im Publikum.

Foto: derStandard.at/tinsobin

Ein Eisbär für den Tierpark von Reykjavik, ein drogenfreies Parlament bis 2020, Handtücher für alle öffentlichen Bäder... Die wenigen Wahlversprechen während seiner Kampagne singt Gnarr in seinem Wahllied herbei - einer isländischen Version Tina Turners Simply the best. Ob die Produktion nicht ein Vermögen an Steuergeldern gekostet habe? "Nichts, außer sechs Stunden Zeit", meint der Bürgermeister.

Foto: derStandard.at/tinsobin

Einar Örn Benediktsson, Ex-Sänger und Trompeter der Band Sugarcubes und Aktivist der isländischen Spaßpartei, stellte das Studio zur Verfügung. Was die Rechte betrifft, "habe ich Tina Turner ein mail geschickt und die Antwort erhalten: 'Kein Problem, mein Freund hat ein Island-Pony", nimmt Gnarr das vor Ort verpönte Wort "Pony" in den Mund. Aber man ist in der Augartenstadt und nicht in Island.

Foto: derStandard.at/tinsobin

Jon Gnarr, Bürgermeister von Reykjavik, Kopf der isländischen Besti flokkurinn ("Beste Partei"), Schauspieler, Komiker und Ex-Punk-Musiker, stellte sich in Wien drei Tage lang im Aktionsradius Augarten dem Musizieren, Diskutieren und Rezitieren sowie der Frage: Rettet Kunst Politik?

Am ersten Tag begleitete Dokumentarfilmer Gaukur Ulfarsson mit seiner Produktion "Jon Gnarr – Der Film zur besten Partei" den Triumph des ersten surrealistischen Bürgermeisters Europas. Tag zwei führten die österreichische Regisseurin Eva Brenner, der deutsch-bulgarische Schriftsteller Ilija Trojanow und der österreichische Schauspieler und Regisseur Hubsi Kramar Gespräche mit Jón Gnarr über seine politischen Chancen und die Frage, ob kritische Künstler in Regierungsmacht vom "System" zerrieben werden – oder das System zerreiben.

Spaß trotz Krise

Alles begann 2009 mit Spaß trotz Krise. "Ich hatte keine Ahnung von Politik", meint Gnarr, "doch als ich den isländischen Premierminister im Fernsehen sah, als er nach dem Zusammenbruch der Banken Gott anrief, Island zu segnen, dachte ich mir: Das kann nicht sein!" Es war der Impuls für den Künstler in die Politik zu gehen und neuen politischen Wind nach Island zu bringen. Die Besti flokkurinn entstand als politische Plattform. Ihren Kern bilden vor allem Reykjaviks Kreative und Intellektuelle. Sie besitzt kein Parteiprogramm und hat in einem Erdrutschsieg die Stimmen der politikverdrossenen Isländer und damit die Kommunalwahlen am 29. Mai 2010 in Reykjavik gewonnen.

Auf die politische Bühne trat Jon Gnarr provokant, surrealistisch, antiautoritär, antineoliberalistisch, antirassistisch und Langeweile um jeden Preis vermeidend. Letzteren Punkt erhob er zum Wahlprogramm, um zwei Tage vor der Wahl zu verkünden: "Wir haben Erfolg und ich fürchte, dass wir langweilig geworden sind. Deshalb werde ich nicht kandidieren." Betroffenes Schweigen im Parlament. „Scherz!!!" Applaus und Gelächter. "Jetzt ist es nicht mehr langweilig und wir treten an."

"Manchmal muss ich weinen"

Der Terminus "Gnarr-Effekt" zog binnen kürzester Zeit in die Politikwissenschaft ein und steht für überraschende Erfolge von Künstler- oder "Spaßparteien", die jenseits billigen Rechtspopulismus‘ gegen das überkommene politische System antreten. Zum Thema Ausländer befragt, sagt Gnarr: "Die Isländer sind hier alle irgendwann eingewandert." Gegen die durch den Crash erzwungene Abwanderung Tausender nicht isländischer Bürger ist der Bürgermeister allerdings bislang machtlos.

So spaßig sich Gnarr gibt, so ernst ist ihm sein Amt. "Manchmal muss ich weinen", sorgt der 43-Jährige mit seiner direkten Art für Irritation. Dass er aufgrund des rigiden Sparpakets seitens der Regierung vor allem in der Kultur- und Familienpolitik den Rotstift ansetzen musste, schmerzt ihn besonders. „Wir versuchen, den Menschen zu erklären, dass wir unsere und ihre Erwartungen nicht erfüllen können, weil die finanzielle Situation es nicht erlaubt."

Keine Antwort auf alles

Was sich seit Gnarrs Antritt als Bürgermeister verändert hat? "Nichts", sagt er nach sorgfältigem Überlegen. "Wir sind in einer sehr ernsten Situation. Der Schuldenberg ist enorm, die Arbeitslosigkeit extrem gestiegen und die isländische Krone ist Mickymaus -Geld." Neun Monate seien eine zu kurze Zeitspanne für positive Veränderungen in einem dermaßen krisengebeutelten Land.

Wo Reykjavik, wenn nicht gar ganz Island in einem Jahr stehen werde, wird der Bürgermeister weiter gefragt? "Ich weiß es nicht", lautet die Antwort. So schwach Gnarrs Nicht-Antworten scheinen mögen, so couragiert sind sie: Welcher Politiker wagt es, keine Antwort, parat zu haben? Die Zukunft nicht vorhersagen zu können?

"Ich versuche, mich selbst als Werkzeug für eine positive Veränderung einzusetzen", begründet ein sichtlich müder Jon Gnarr am Ende der drei Auftritte seine Motivation für die Funktion als Bürgermeister. "Ich bin überzeugt, dass wir gestärkt aus der Krise hervorgehen werden", verbreitet er positives Denken, das in der von jeher Krisen-behafteten Geschichte Islands begründet liegt.

Ökonomisches Tauwetter durch Kreativität

"Wir können es im Kleinen jedes Jahr beobachten", zieht Gnarr eine Analogie, "im isländischen Winter mit seiner Kälte und Dunkelheit fällt es schwer, an einen Frühling zu glauben, doch er kommt immer wieder. So wird auch ein ökonomischer Frühling kommen." Davon, dass Kunst und Kreativität dieses "Tauwetter" beschleunigen können, ist Gnarr überzeugt: "Die Kunst, dieses große Mysterium, wird etwas außerordentlich Neues, unerhört Schönes, erschaffen."

Seinen Kollegen Michael Häupl hat der Bürgermeister von Reykjavik nicht getroffen. Sein fünftägiger Besuch war der Kunst gewidmet. An der Bundeshauptstadt ist ihm besonders eine "eigenartige Stille" aufgefallen, "die über allem schwebt. Im Vergleich zu anderen Städten ist Wien sehr ruhig und ernst, das fasziniert mich". Gnarr kann sich vorstellen, nächstes Mal das offizielle Wien kennen zu lernen, dem eine Dosis Gnarrlismus mit Sicherheit gut tun würde. (Eva Tinsobin,19.03.2011,derStandard.at)

Die nächsten Veranstaltungen der Reihe "Art goes Government – Rettet Kunst die Politik?" finden sich unter www.aktionsradius.at