Wien - „International ist gerade ein gestuftes Therapiekonzept in Ausarbeitung, das erstmals ein Behandlungsziel definiert, das noch vor wenigen Jahren unerreichbar schien: MS-Schübe sollen künftig nicht nur reduziert, sondern gänzlich verhindert werden. Damit geht es erstmals nicht nur um eine Verzögerung behindernder Dauerfolgen, sondern um einen Stopp des Fortschreitens", so Karl Vass (Leiter der Multiple Sklerose Ambulanz an der Universitätsklinik für Neurologie, AKH Wien) anlässlich des 9. ÖGN-Jahreskongresses. 

Durchbrüche bei Medikamenten bringt deutliche Reduktion von Schüben und Dauerfolgen
Möglich sei dies durch sehr erfreuliche Entwicklungen auf dem Sektor der MS-Medikamente. Cortison, das klassische Therapeutikum für das rasche Abklingen eines MS-Schubs, und immunmodulierende Medikamenten (vor allem Interferone und Glatirameracetat) können die Häufigkeit der Schübe sowie bleibender Behinderungen um jeweils etwa 30 Prozent reduzieren.

Therapeutischer Durchbruch

In den letzten Jahren gab es zwei weitere therapeutische Durchbrüche: Den monoklonalen Antikörper Natalizumab, der ein Element des Immunsystems (Immunglobulin G4) hemmt. Dadurch werden Leukozyten, wesentliche Mitverursacher von MS-Schüben, daran gehindert, in Entzündungsherde einzuwandern. Und Fingolimod, die synthetische Nachbildung des Wirkstoffes (Myriocin) eines in der Traditionellen Chinesischen Medizin genutzten Pilzes, den der Körper selbst in eine Substanz umwandelt, die Leukozytenbildung und die bei MS überschießende Aktivität des Immunsystems herunter moduliert. Vass: „Beide Substanzen verringern die Häufigkeit von Schüben und das Auftreten behindernder Dauerfolgen deutlich stärker als die traditionellen Therapien."
Um das Ziel der Schübe-Verhinderung bei möglichst allen Patienten nachhaltig zu erreichen, bedarf es zusätzlichen Wissens über Ursachen und Mechanismen von MS. Vass. „Die heißesten Themen, Neurogenetik und Kernspinspektroskopie, nehmen auf dem ÖGN-Kongress breiten Raum ein."

Neuesten Erkenntnisse zeigen, dass an der Entstehung von MS zumindest 20 verschiedene Gene beteiligt sind. Die meisten dieser Gene haben etwas mit der Steuerung des Immunsystems zu tun. Das stützt die These, dass MS zumindest auch eine Autoimmunerkrankung ist. Vass: „Wir erwarten uns Aufschlüsse darüber, an welchen Schaltstellen des Immunsystems künftige Medikamente eingreifen müssten, um Schübe noch effizienter zu verhindern." 

Maßgeschneiderte Medikamente

Neue Möglichkeiten der Bildgebung ermöglichen es, die biochemischen Abläufe in den bei MS zersetzten Myelinscheiden (Isolierschichten, die Fortsätze bestimmter Nerven des Zentralnervensystems ummanteln) wesentlich genauer zu analysieren als bisher. Vass: „Durch neue Studien hoffen wir, diese Mechanismen soweit zu entschlüsseln, dass wir auf dieser Basis auch neuartige Medikamente entwickeln können. Unser Ziel ist es, in absehbarer Zukunft möglichst viele MS-Patienten Mechanismen-spezifisch behandeln zu können, ihnen also maßgeschneiderte Medikamente für gerade ihre Variante von MS anbieten zu können."

In Österreich sind geschätzte 10.000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt, der häufigsten entzündlichen Erkrankung des Nervensystems. MS beginnt am häufigsten zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr und betrifft überwiegend Frauen. Unbehandelt verläuft die Krankheit mit zunehmenden chronischen Einschränkungen des Alltagslebens. Vor allem Kognitionsstörungen führen dazu, dass 10 bis 15 Jahre nach dem Krankheitsausbruch nur 50 Prozent der Betroffenen voll erwerbsfähig sind. (red)