John Constable und seine "Heuwagen"-Studie aus dem Jahre 1821.

Foto: Victoria and Albert Museum London

Präsentiert werden 58 Ölgemälde und 29 Zeichnungen wie Aquarelle.

Traum, Melancholie, Eskapismus. Krise, Hyperrealismus, Idealisierung. So verschieden kann Natur künstlerisch dargestellt, eingefangen, wiedergegeben und durchdrungen werden. Es hat den deutlichen Anschein, dass sich dem Trend des Neuen Landlebens, den Zeitschriften auslöst und in den letzten Jahren maßgeblich befördert haben, dieser Tage nicht nur Verlage mit einer erstaunlichen Zahl an Selbstauskunftsbüchern stadtflüchtiger Großstadtbewohner anschließen, sondern auch Kunstmuseen.

Die Kunsthalle im norddeutschen Kiel etwa zeigt eine Überblicksschau über 200 Jahre Landschaftsmalerei; im April ist in Paris eine Ausstellung der Naturzeichnungen Claude Lorrains zu sehen, und Luzern zeigt demnächst junge Landschaftskunst aus China, Leipzig Matthias Weischer und seine neo-postromantischen Natures mortes.

Weiters präsentiert Zürich die mikrorealistischen Gemälde des Schweizers Franz Gertsch, und im Sommer konfrontiert die Londoner Dulwich Gallery den französischen Klassizisten Poussin mit Arbeiten des 83-jährigen Amerikaners Cy Twombly. Als "Arkadische Maler" werden die beiden annonciert.

Was er vor sich sah

Diese idyllische Bezeichnung dürfte niemandem in der Stuttgarter Ausstellung des Engländers John Constable (1776-1837) einfallen. Denn der in Britannien berühmte Maler ist kein Idealisierer, kein Maler von Gedanken und Konzepten. Er ist vielmehr ein eminenter Beobachter, ein atemberaubender Porträtist von Bäumen, Wolken und Wasser.

In erster Linie war er Nahbereichskünstler: Er malte das, was er vor sich sah, was sich ihm aus dem Fenster oder in unmittelbarer Nähe darbot.

Im Gegensatz zu seinem Landsmann William Turner, der viel reiste und dabei unablässig malte, zeichnete und so wegen kontinentaleuropäischer Landschaftsdarstellungen (vom Rhein über die Bregenzer Bucht bis zu Venedig) in Kontinentaleuropa hohe Beliebtheit genießt, ist der 1776 geborene und 1837 verstorbene John Constable der Maler der englischen Kernlande - der südöstlich von London gelegenen Grafschaften Suffolk und Essex.

Täuschend harmlose Sujets

Im kleinen Ort East Bergholt in Suffolk wurde er als Mühlenbesitzersohn geboren; dort wuchs er auf, dorthin kehrte er nach seinem Umzug 1799 ins mäßig geschätzte London immer wieder zurück. Vielleicht erklären seine täuschend harmlosen ländlichen Sujets aus Suffolk und Hampstead (damals noch kein Bezirk Londons, sondern ein Dorf mit guter Luft und bestechend klarem Licht), wieso er auch außerhalb Englands geschätzt wird. Er, der mit dem Meer sichtlich wenig anfangen konnte. Aber erst jetzt, 184 Jahre nach seinem Tod, richtet ihm Stuttgart als erstes Museum im deutschsprachigen Raum eine monographische Schau aus.

Die 58 Ölgemälde und 29 Zeichnungen und Aquarelle (fast alle aus der Sammlung des Victoria and Albert Museums in London) folgen der Chronologie von Constables Lebensstationen. Was klug ist, sieht man doch auf diese Art unr Weise seine Entwicklung aufgeblättert: von den begabten, ihrer selbst noch nicht ganz sicheren Anfängen im Geiste Gainsboroughs und Lorrains hin zu einer raschen, energischen Pinselführung, zum stolzen, gegen die Kunst-Nomenklatura seiner Zeit gerichteten Anspruch, Naturmaler zu sein. Und schließlich sieht man den Weg zur eigenen Handschrift, in der sich der Realismus sukzessive aufzulösen begann.

Auf seine Schultern

Deutlich wird, wie sehr spätere Maler auf den Schultern Constables, des Riesen vom River Stour, stehen: Das Energiegeladene, das Malen vor der Natur, der Umgang mit Licht und Schatten, die hoch dramatischen, latent bedrohlichen Wolkenformationen, die Missachtung alles Akademischen (dabei war Constable kunsthistorisch sehr beschlagen, kannte van Ruysdael ebenso genau wie Tizian) sind zu erwähnen. Zudem: Der subjektive Zugriff, den die Skizzen hinreißend zeigen, und das skrupulöse Ringen mit großen Formaten, sie verweisen auf die Maler von Barbizon wie auf die Impressionisten, vor allem auf Lovis Corinth.

Großartig ist, dass neben den großformatigen Studien, einige davon extra für diese Schau in der Staatsgalerie restauriert, die ausgeführten Gemälde hängen. Dergestalt einem Maler auf den Wegen des komplexen Findens, Verwerfens und Veränderns zu folgen, erweist sich als extrem faszinierend. (Alexander Kluy aus München/ DER STANDARD, Printausgabe, 14.3.2011)