Ulm/Wien - Ein ehemaliger Katastrophenhelfer von Tschernobyl zählt 22 Krankheiten auf, an denen er seit dem GAU leidet. Überlebende von Nuklearunfällen sprechen von ganzen Dörfern, in denen nur noch Kranke leben. Wo gehäuft Fälle von Leukämie oder Gehirntumore auftreten. Dennoch streiten Experten nach wie vor darüber, welche Krankheiten auf Verstrahlung zurückzuführen sind.

Theodor Fliedner hat sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Er hat mit seinemTeam die Krankengeschichten von 800 Strahlenopfern von rund 70 Unfällen weltweit zusammengetragen. Der 81-jährige Mediziner ist Direktor des Arbeitsbereichs Strahlenmedizinische Forschung an der Universität Ulm.

Was er mit Sicherheit sagen kann: Wenn auch nur ein Körperteil vor der Strahlung geschützt ist (zum Beispiel durch einen Bleimantel oder eine Betonwand), hat die Person deutlich höhere Chancen auf Regeneration. Die Anzahl der intakten Zellen im Körper, die nicht von den Strahlen beschädigt wurde, sei entscheidend. Personen, die kaum Überlebenschancen haben, brauchen Zellen von außen - durch eine Stammzellentransplantation.

Für Franz Kainberger von der Medizinischen Universität Wien ist die Dosis der Strahlung entscheidend. Wie hoch die Dosis war, zeigen aber erst die Folgeerscheinungen. "Die Strahlung ist für den Menschen nicht wahrnehmbar" , sagt der Leiter der Stabsstelle Lehre der Uni-Klinik für Radiodiagnostik. "Man kann sie nicht sehen, riechen, schmecken oder fühlen. Es gibt Menschen, die merken ihr ganzes Leben nichts davon, dass sie leicht verstrahlt wurden."

Bei einem schweren Atomunfall, wenn eine große Dosis ionisierender Strahlung freigesetzt wird, wird Gewebe, das sich rasch erneuert, schwer geschädigt. Haut, Darm, Lunge und Blut sind besonders strahlensensibel. "Erste Anzeichen für ein akutes Strahlensyndrom sind Müdigkeit, Kopfschmerzen, Erbrechen, Apathie, Durchfall und Hautentzündungen" , sagt Kainberger.

Große Unterschiede

Es gibt aber große individuelle Unterschiede, wie die radioaktive Strahlung vom Körper aufgenommen wird. Da verhält es sich wie bei der UV-Strahlung: Ein Hauttypus reagiert bei einem Sonnenbad mit einem Sonnenbrand, einem anderen tut dieses nichts. UV-Strahlung wird zum Großteil von der Oberfläche der Haut absorbiert, während ionisierte Strahlung tief ins Gewebe eindringt.

"Die am meisten gefürchteten Komplikationen treten dann zutage, wenn der Flüssigkeitshaushalt im Körper aus dem Gleichgewicht gerät. Dann sind schwere Blutungen die Folge, die nicht mehr gestoppt werden können." Schwere Syndrome, sagt Kainberger, seien aber die Ausnahme.

Wie Fliedner vertritt auch Kainberger die Ansicht, dass Strahlung sehr gut abgeschirmt werden kann. Rettungskräfte bei einem Atomunfall, die einem hohen Strahlungsrisiko ausgesetzt sein können, können sich mit entsprechender Kleidung schützen. "Beim Unglück in Tschernobyl haben Feuerwehrleute etwa falsche Helme benutzt, die den Nacken nicht ausreichend verdeckt haben." Kainberger glaubt aber, dass die Sicherungsmaßnahmen in Japan besser laufen werden. Ob die Strahlung eines Reaktorunglücks oder einer Atombombe gefährlicher sei, ließ er dahingestellt. "In beiden Fällen ist die Strahlung aggressiv und schwer vorhersehbar."

Saubere Strahlung in klar kontrollierter Dosis könne hingegen heilend sein. "In einer Klinik in Deutschland wurden Kinder, die nach dem Tschernobyl-Unglück an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind, mit einer Strahlentherapie behandelt. Ihr Krebs wurde geheilt." (DER STANDARD, Printausgabe, 13.3.2011)