Grafik: DER STANDARD

Wien - Zum Zeitpunkt der verspäteten Bekanntgabe des "Unfalls" in Tschernobyl waren bereits weite Teile Nord-und Mitteleuropas von der Wolke betroffen. Dennoch versuchten etliche kernkraftfreundliche Wissenschafter, die Gefahr zu bagatellisieren. In der ZiB 2 erklärte ein Mitglied der österreichischen Reaktorkommission, es habe ohnehin nur zwei Tote bei der Explosion gegeben. In Wahrheit sind mindestens 25.000 der "Liquidatoren" , die die Sowjetunion einsetzte, inzwischen tot, 70.000 sind Invalide. Tausende völlig ungeschützte (und unwissende) Soldaten, Feuerwehrleute, freiwillige Helfer schaufelten zum Teil aus Hubschraubern Sand, Blei, Bor und diverse Chemikalien in den rotglühenden Höllenschlund.

Die Wolke erreichte Österreich am 30. April. Die Wetterlage war unbeständig und in einigen Gebieten Österreichs regnete die Wolke aus. Die Folge: Österreich gehörte nach der Ukraine, Weißrußland, und Schweden zu den am meisten verstrahlten Gebieten Europas, was allerdings erst später genau belegt wurde. Der damalige Gesundheitsminister Franz Kreuzer stand vor einer schwierigen Entscheidung: 1. Mai-Aufmarsch der SPÖ, ja oder nein? Der 1.Mai war ein strahlend schöner Tag. Die Sozialdemokraten marschierten. Allerdings noch durch ein paar Regenlacken von der Nacht zuvor. Tatsächlich war in Wien die Belastung am 1.Mai relativ gering (siehe Grafik). Die am stärksten betroffenen Gebiete waren Teile des Wald-, Mühl- und Hausruckviertels, die Gegend um Linz, die Welser Heide, die Pyhrngegend, das Salzkammergut, die westlichen Niederen Tauern und die Hohen Tauern bis zu den Zillertaler Alpen, die Koralpe und Südkärnten. Ausflüge dort brachten erhöhte Belastung. Der Gesundheitsminister warnte vor dem Genuss von Frischmilch, Frischgemüse, Freilandeiern, Wild und Pilzen. Weideverbot für Kühe, "Entsorgung" von verseuchter Milch, Messung aller Lebensmittel, Austausch des Sandes von Sandkisten waren weitere Maßnahmen.

Franz Kreuzer erinnerte sich später: "Wir haben gesagt: Essts, kaufts, was euch gut schmeckt. Wir sorgen eh dafür, dass die Grenzwerte eingehalten werden. Wir haben die Milch in ganz Österreich spazieren geführt. Dafür haben uns die Milchindustriellen nach Strich und Faden hineingelegt. Was die profitiert haben an Tschernobyl, das geht auf keine Kuhhaut." (DER STANDARD, Printausgabe, 13.3.2011)