Diese Woche hat das EU-Parlament mit großer Mehrheit einen sehr kritischen Bericht über den Fortgang der Reformen beim Beitrittskandidaten Türkei veröffentlicht: Die Türkei schütze religiöse Minderheiten nicht ausreichend und lasse immer noch zu, dass Frauen diskriminiert würden. Ehrenmorde und Zwangsheiraten nähmen zu. Die Regierung untergrabe die Pressefreiheit, etwa durch die strafrechtliche Verfolgung von Journalisten, die Menschenrechtsverletzungen aufdeckten. Die Reform des Justizsystems komme nicht voran. Fazit: Die Türkei sei "keine wahre pluralistische Demokratie".

Wer die Meldungen etwa des letzten Jahres über die Türkei verfolgt hat, findet viele Bestätigungen dafür. Das letzte, bizarrste Beispiel ist, dass kürzlich Journalisten verhaftet wurden, die über die rechtsradikale "Ergenekon" -Verschwörung berichtet haben - weil sie an den Putschplänen dieser militärischen Gruppe beteiligt sein sollen. Die Wahrheit ist aber, dass die Justiz dutzende Verdächtige (auch hohe Militärs) eingesperrt hat, bisher aber keine wirklichen Beweise vorlegen konnte. Das Verfahren hat aber bis jetzt die Wirkung, dass hohe Militärs, die der gemäßigt-islamischen Regierung Erdogan skeptisch gegenüberstehen, eingeschüchtert sind.

Das ist die eine Wahrheit über die Türkei. Die andere besteht darin, dass sich die Türkei trotz ziemlich bedenklicher Vorgänge der letzten Zeit von der alten, extrem reaktionären und autoritären Gesellschaft wegbewegt.

"Es hat ernsthafte Verbesserungen auf dem Gebiet der Menschenrechte gegeben", sagte der türkisch-kurdische Rechtsanwalt und Aktivist Orhan Kemal Cengis kürzlich in Wien bei einem Seminar der "European Stability Initiative" (ESI). Die Fortschritte seien relativ, aber real: "Es wird nicht mehr systematisch gefoltert, die Drohungen und Angriffe auf Menschenrechtler sind zurückgegangen". Hauptgrund dafür sei der Weg in die EU, der Veränderungen erzwungen habe.

Beim wahrscheinlich wichtigsten gesellschaftspolitischen Gebiet, den Frauenrechten, habe es ebenfalls - relative - Verbesserungen gegeben, berichtet Nigar Göksel, eine Analystin für die ESI. Ein - eher morbides - Parameter sei, dass die Zahl der Ehrenmorde steige, weil die Frauen viel intensiver auf ihrer Freiheit bestünden.

In der Diskussion kam auch zur Sprache, dass vielleicht nicht der Islam, sondern eher der "heiliges Türkentum" -Nationalismus und gefährlich übertriebenes Selbstbewusstsein die wahren Beitrittshindernisse sind. Wenn Erdogan in Düsseldorf zehntausenden Menschen türkischer Abstammung, von denen tausende einen deutschen Pass haben, zuruft: "Sie sind meine Staatsbürger!" , dann spricht das Bände.

Zwei Wahrheiten: Die Türkei ist heute nicht europareif. Sie ist aber auf einem - sehr langen - Weg dorthin. Wenn Europa die Türkei jetzt aber schroff abweist, so Orhan Kemal Cengiz, "dann wird es einen extremen nationalistischen Ausbruch geben". (Hans Rauscher/DER STANDARD, Printausgabe, 12.3.2011)