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"Die Industrie schafft es mit ein paar Tricks auch fettfreies Joghurt cremig zu machen."

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Maximilian Ledochowski ist Ernährungsmediziner in Innsbruck und Verfasser eines Standard-Werkes zum Thema. In den kommenden Ausgaben des MedStandard (immer montags im Standard) wird er zu ernährungsrelevanten Themen schreiben.

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Industriell erzeugtes Essen belastet den Körper, sagt der Ernährungsmediziner Maximilian Ledochowski. Mit Karin Pollack sprach er über Supermärkte, Hunger und gefährlich cremige Joghurts.

Standard: Gibt es gesundes Essen?

Ledochowski: Gesunde Ernährung gibt es in dieser simplen Definition nicht. Es wäre so, als ob man fragen würde: Gibt es eine gesunde Schuhgröße? Jeder Mensch hat einen individuell unterschiedlichen Stoffwechsel, lebt in unterschiedlichen Klimazonen, hat andere Anforderungen im Alltag. Eigentlich ist der Mensch ja mit einem hochsensiblen Hunger- und Sättigungsgefühl ausgestattet, aus dem sich gesunde Ernährung ganz natürlich ergäbe.

Standard: Warum "eigentlich" ?

Ledochowski: Weil wir uns auf diese Sinne nicht mehr verlassen können. Durch die industrielle Erzeugung von Nahrungsmitteln hat sich alles von Grund auf geändert. Im Supermarkt sind alle Sinnesreize ausgeschaltet, dort werden Lebensmittel mit Licht inszeniert, riechen nicht mehr richtig, weil sie in Plastik verpackt und aromatisiert sind. Außerdem muss alles dort mindestens 14 Tage haltbar sein. Geschmacksverstärker, Süßungsmittel, Aromen und Bitterstoffe-Rezeptorenblocker haben unseren natürlichen Geschmackssinn ausgeschalten. Unsere Hungersteuerung funktioniert nicht mehr, und daraus ergeben sich auch alle Probleme.

Standard: Welche genau?

Ledochowski: Ich sehe zunehmend mehr Patienten mit Reizdarmsyndrom aufgrund von Laktoseintoleranz oder Fruchtzuckerintoleranz. Dann gibt es aber auch noch eine ganze Reihe anderer Intoleranzen, etwa auf Sorbit. Vieles bleibt unerkannt. Es liegt aber nicht daran, dass die Menschen empfindlicher geworden sind, sondern daran, dass die Nahrungsmittelindustrie immer radikaler mit Lebensmitteln umgeht. Es gibt nicht viele große Konzerne, doch die ziehen alle am gleichen Strang. Adipositas ist eine Folge dieser Art der modernen Ernährung. Medizinisch betrachtet stecken hinter Fettleibigkeit eine ganze Reihe von Erkrankungen, Dicksein ist nur ein Symptom.

Standard: Warum werden aber dann nicht alle dick?

Ledochowski: Weil jeder einen unterschiedlichen Stoffwechsel hat. Es bekommt ja auch nicht jeder im Alter automatisch Rheuma. So ist das auch bei Insulinresistenz, die zu Diabetes führt. Übergewicht ist auch oft die Folge einer chronischen Entzündung. Das wird komplett unterschätzt.

Standard: Wird es erforscht?

Ledochowski: Kaum, weil niemand Interesse daran hat. Der Staat geht mit den Universitäten in Richtung Public Private Partnership und holt für angewandte Forschung Industriepartner an Bord. Die Mittel für Grundlagenforschung werden immer geringer. In Innsbruck wurde keine Abteilung für Ernährungsmedizin eingerichtet. Viele Projekte musste ich aus eigener Tasche finanzieren. Wir konnten zum Beispiel zeigen, dass ein bestimmtes Molekül im Körper, der Tumornekrosefaktor alpha, einmal zu Gewichtszunahme, bei höherer Konzentration aber zu Gewichtsabnahme führt. Es hängt vom Stadium der Erkrankung ab. Das bedeutet: Wenn der Körper einen Mangel hat, muss der nicht immer ausgeglichen werden, wie uns die Werbung oft suggeriert.

Standard: Reden wir praktisch: Was braucht der Mensch?

Ledochowski: Nährstoffe, die wir für den Aufbau und die Aufrechterhaltung unseres Stoffwechsels brauchen. Das sind Eiweiß, Kohlehydrate und Fette, aber auch eine Reihe von Spurenelementen und sekundären Pflanzeninhaltsstoffen. Wenn wir Hunger haben, füllen wir unsere Energieressourcen auf, durch den Appetit gleichen wir Ungleichgewichte im Körper aus. Das ist der Grund, warum wir nach der Hauptspeise immer noch Lust auf etwas Süßes haben. Wer Hunger hat, kann im Grunde ja alles essen. Wenn der Körper nicht durch lebensmitteltechnologische Maßnahmen getäuscht wird, holt er sich die Nahrungsmittel, die er braucht.

Standard: Klingt recht einfach.

Ledochowski: Ist es aber nicht. Das Problem ist unter anderem das Haltbarmachen von Nahrungsmitteln, und das ist ja im Supermarkt nicht zu Ende. Auch unser Darm muss einen wesentlich höheren Aufwand bei der Verdauung betreiben. Eine nicht lagerbare Ware hat einen ungleich höheren Nährwert als eine Haltbargemachte.

Standard: Also Einkaufen am Markt?

Ledochowski: Dort stehen die Chancen natürlich ungleich besser, allerdings ist das Haltbarmachen ja bereits in der Züchtung der Sorten berücksichtigt. Auch die Obst- und Gemüseproduktion ist zum Großteil schon industrialisiert. Wie sonst sollten Äpfel alle immer ungefähr gleich groß sein? Das Problem mit der Ernährung begann aus meiner Sicht mit dem Verschwinden der Tante-Emma-Läden. Das können wir gut beobachten. Eine ganze Reihe von gesundheitlichen Problemen gab es zum Beispiel in den Ländern des ehemaligen Ostblocks nicht, als es sie schon hier gab. Mittlerweile gibt es auch dort die Supermarktsysteme und die Folgen der Ernährungsumstellung. Man bezeichnet das als Foodtransition. Alles wird transportabel und haltbar. Die Haltbarkeit macht auch vor dem Verdauungssystem nicht stopp.

Standard: Was genau passiert bei der Industrialisierung?

Ledochowski: Nahrungsmittel werden in ihre Bestandteile aufgespalten, diesen werden Eigenschaften zugeschrieben, dann wird alles neu zusammengesetzt. Milch ist das beste Beispiel. Der Mix aus Eiweiß, Molke und Fett wird beliebig. Die Industrie schafft es mit ein paar Tricks, auch fettfreies Joghurt cremig zu machen. Das fühlt sich auf der Zunge gut an, entspricht aber nicht dem physiologischen Gleichgewicht, das der Mensch über tausende Jahre gewöhnt war. Der Darm verdaut es schlecht.

Standard: Warum fällt das zum Beispiel den Lebensmitteltechnologen nicht auf?

Ledochowski: Die Lebensmitteltechnologen sitzen einem Irrglauben auf. Sie denken, dass, wenn etwas in der Natur vorkommt, man es beliebig einsetzen kann. Man braucht es dann nicht einmal so genau zu deklarieren. Inulin, ein Ballaststoff im Spargel, ist ein gutes Beispiel. Es ist ein natürlicher Bestandteil, eignet sich aber gut als Fettträger und macht Dinge cremiger. Das Problem: Ein Drittel der Bevölkerung verträgt hohe Inulinmengen nicht, die sich dann ergeben, wenn Inulin im täglichen Joghurt drinnen ist - einmal im Jahr während der Spargelsaison wäre es ja kein Problem. Solchen Argumenten ist die Lebensmitteltechnologie aber nicht aufgeschlossen. Ich denke, dass unnatürlich hohe Mengen von unphysiologisch zusammengesetzten Lebensmitteln einen wichtigen Beitrag für gesundheitliche Probleme ausmachen. Das sind dann auch Lebensmittel, die vermeintlich als "gesund" vermarktet werden. Vieles, was neu zusammengesetzt wird, muss dann sogar nicht mehr deklariert werden.

Standard: Sieht die Ernährungswissenschaft diese Probleme nicht?

Ledochowski: Nein, weil sie keinen Kontakt zu kranken Menschen haben. Theorie und Praxis driften in der Ernährung immer weiter auseinander. Auch die Gastroenterologen haben wenig Interesse an Ernährung. Auf Kongressen geht es dort eher um Endoskopietechniken.

Standard: Lassen sich evidenzbasierte Studien zu Nahrung überhaupt durchführen?

Ledochowski: Das ist methodologisch schwierig, denn Nahrung lässt sich in dem Sinn ja nicht verblinden, um in doppelblinden, randomisierten Studien ausgetestet zu werden. Public Health und Ernährungsmedizin ist ein Sektor in der Medizin, der chronisch unterdotiert ist.

Standard: Spielt nicht auch die Globalisierung der Nahrungsmittelindustrie eine Rolle?

Ledochowski: Es ist die Amerikanisierung der Nahrungsmittelindustrie, die die Ernährungssituation verschlechtert. Diese Globalisierung ist oft vollkommen intransparent. Fetakäse ist ein Beispiel. Er wurde ursprünglich in Griechenland aus Schaf- und Ziegenmilch gemacht und zu einem laktosefreien Käse fermentiert, den die Griechen leichter verdauen können. Heute wird Fetakäse im Allgäu aus Milch von Holsteinkühen erzeugt und mit anderen Bakterien fermentiert, die den Milchzucker weniger gut aufspalten. Für den Fetageschmack werden künstliche Aromastoffe zugesetzt. Der Fetakäse wird dann aber nach Griechenland exportiert, und dort vertragen ihn dann plötzlich die vorwiegend laktoseintoleranten Griechen nicht mehr. Dann wundert man sich über Unverträglichkeitsreaktionen. Man hat kaum eine Chance, die Ursache zu erkennen, weil die Zusammenhänge von Produktion und Handel von außen betrachtet vollkommen intransparent sind.

Standard: Ließe sich das ändern?

Ledochowski: Wir dürfen bei der Entwicklung von Nahrung nicht so stark in die Natur eingreifen und sollten traditionelle Bearbeitungsmethoden respektieren. Durch die modernen Herstellungsmethoden täuschen wir die normalen Hunger-Appetit-Sättigungsmechanismen und versuchen, die daraus resultierenden Störungen wieder mit vielen Regeln auszugleichen. Zum Beispiel "Viel Wasser trinken" . Es kommt immer auf den Menschentypen und seine Lebensumstände an. Jahrtausende hat sich der Mensch auf sein Durstgefühl verlassen. Er ist mit Osmoregulatoren ausgestattet, die viel besser als der Intellekt funktionieren.

Standard: Sind die Geschmacksnerven schon manipuliert?

Ledochowski: Der Geschmack eines Kindes wird im Mutterleib geprägt, bereits dort werden Vorlieben angelegt. Das spielt Nahrungsmittelkonzernen in die Tasche. Man isst, was einem schmeckt, nicht das, was Ernährungsexperten als "gesund" einstufen.

Standard: Klingt eher düster.

Ledochowski: Es ist ein wirtschaftliches Problem. Die Lebensmittelindustrie ist auf Wachstum ausgerichtet. Das ist in einer Gesellschaft, die nicht hungrig ist, sehr schwierig. Es geht also darum, Konsumenten zum Mehrkonsum zu verführen. Das gelingt nur durch attraktive Nahrungsmittel. Es geht also darum, körpereigene Kontrollmechanismen auszuschalten, möglicherweise sogar darum, eine Art Sucht zu erzeugen. Mit Glutamat schmeckt Suppe besser als mit Sellerie und Salz, wer Süßes gewohnt ist, will es noch süßer. Dagegen haben die Selbstregulationssysteme des Menschen keine Chance. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 12./13.03.2011)