Wer aus dieser Perspektive heraus fotografieren kann, der hat es geschafft: Um die Bikekitchen im 15. Wiener Gemeindebezirk zu bezwingen, gilt es, mit Kamera um den Hals beziehungsweise Rad unter dem Arm einige ebenso schmale wie steile Stufen nach unten zu überwinden.

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"Sorry, darf ich mein Rad über dich drüber heben?" Der Andrang im Keller ist enorm, Menschen und Räder stapeln sich förmlich übereinander. "Das ist normal", weiß Bernd. "Sobald es warm wird, ist hier richtig viel los." Bernd, Marianne, Paul, Melanie, Erwin und Heini heißen die AktivistInnen der Wiener Bikekitchen. Nur einige von etlichen Rad-Begeisterten, die sich in der Goldschlagstraße der Beratung von reparaturwilligen RadfahrerInnen widmen - unentgeltlich, versteht sich. "Die Fahrradküche ist ein öffentlich zugänglicher Raum, der eine Werkstatt, eine Küche und ein Wohnzimmer beherbergt", stellt sich der Verein im Web vor.

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"Ich habe zwei linke Hände und versuche, mein Rad selbst reparieren zu lernen." Nein, die junge Frau mit dem grünen Puch Elegance ist keine Linkshänderin. Das Vorderrad muss aus dem Rahmen raus. Zwischenfrage: "Sorry, darf ich mit meinem Rad unter deinem Arm durch?" Die Puch-Lenkerin beobachtet, dass immer mehr Menschen die Bikekitchen aufsuchen, "und es hilft einem immer jemand, man braucht nur zu rufen." Ruft es in den Raum und schon ist Bernd zur Stelle. Es wird noch ein bisschen enger. Dafür entsteht mehr Platz an der Bar.

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Bernd erklärt und legt selbst Hand ans Rad. "Sinn ist, dass die Leute hier lernen, ihre Räder selbst herzurichten. Wenn man alleine zu Hause herumexperimentiert, braucht man zehn Mal so lang", erklärt er sein Engagement. Und seine Motivation: "Die Geheimniskrämerei vieler Werkstätten ist mir auf die Nerven gegangen".

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Coole Musik untermalt das Schrauben und Schleifen. "Bier oder Frucade?", fragt Bernd in seiner erweiterten Funktion als Barkeeper. "Eierlikör haben wir noch nicht im Programm", sinniert er, dafür gibt's diverse Aufgussgetränke.

"In der Bikekitchen kann mensch Fahrräder reparieren und kaputt machen, zerlegen und daraus Choppers - Tallbikes, Longbikes, Einräder, Lastenräder, Anhänger, etc... - konstruieren." Soviel zum konkreten Leitbild. Eine Menge, beziehungsweise Unmenge gebrauchter Ersatzteile steht zur Verfügung, ebenso Räder, die in Eigeninitiative fahrtauglich gemacht werden können.

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Die AktivistInnen setzen sich für "nicht kommerzielle do it yourself-Kultur ein, die in einer konsumorientierten Gesellschaft dringend gebraucht wird." Das internationale Projekt ist mit seinen Zentren in Graz (die erste Filiale), Wien und Linz in Österreich am stärksten vertreten. In Innsbruck bastelt man angeblich gerade an einer eigenen.

"Ich will mein Rad neu streichen, deshalb muss ich alles abschleifen", erklärt Marie. Blau mit weißen Tupfen soll es zu Beginn der Saison erstrahlen.

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Warum die Bikekitchen so heißt wie sie heißt? Weil sie über eine Küche verfügt. In dieser finden sich Töpfe, Kochgeräte, Grundnahrungsmittel und ein funktionierender E-Herd. Jeder kann die Bikekitchen-Gemeinschaft bekochen. Apropos Gemeinschaft: Wer meint, es handle sich hierbei um eine eingeschworene Clique oder gar um eine Verschwörung von Rad-Fundis, der irrt. "Antikapitalistisch, Antirassistisch, Kollektiv, Plenum, Konsens, Criticalmass, Fuhrpark..." hat sich der Verein groß in seine Statuten und auf die Webseite geschrieben. Rad-Interessierte jeder Altersgruppe, Nationalität und gesellschaftlichen Schicht werden fröhlich willkommen geheißen. Man spricht sich an und tauscht sich aus. Beim Reparieren sind alle gleich.

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"Feministisch, Antisexistisch..." prangt es weiter von der Webseite. Marianne und Bernd sind ein eingespieltes Team. "Wir haben hier einen Frauenanteil von rund 30 Prozent, aber das Reparieren von Fahrrädern ist immer noch eine Männerdomäne", beobachtet Marianne, die beruflich als Fahrradbotin für die Heavy Pedals unterwegs ist. Wohlgemerkt: als einzige angestellte Fahrradbotin Österreichs, "wenn nicht gar Europas", vermutet sie. Um den Umgang mit Werkzeug und technischem Know how verstärkt in Frauenhände zu bringen, laden die Frauen der Bikekitchen seit gut zwei Jahren regelmäßig zu einem eigenen Frauen-/Lesben-/Transgender-Selbsthilfewerkstatt-Tag. Der nächste findet am 1. April von 16 bis 20 Uhr statt.

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Die Frauen-Initiative der Bikekitchen wurde am 7. März mit dem 5. Veronika-Frauenpreis ausgezeichnet. Initiiert von Veronika Reininger werden anlässlich des Internationalen Frauentags jährlich Frauen aus Rudolfsheim-Fünfhaus geehrt, deren Leistungen und Arbeiten still und ohne viel Aufsehen das Leben vieler Menschen bereichern.

Der Profi-Arbeitsanzug täuscht. "Ich bin zum ersten Mal hier", sagt die junge Frau, die mit Engelsgeduld Speiche für Speiche ausdreht, um einen Wahnsinns-Achter in einen kaum mehr wahrnehmbaren Achter zu verwandeln.

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Eine viertel bis halbe Drehung in die richtige Richtung...

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... klingt einfacher als es ist, doch schon ist der erste Erfolg ist am Messgerät sichtbar.

Alles, was man von der Bikekitchen braucht, kann man zu freien Preisen erwerben. Seit drei Jahren funktioniert dieses Konzept in Wien. "Jeder schätzt für sich selbst ein, wie viel ihm die Dinge wert sind", erklärt Marianne. "Besonders viel spenden die Fahrradkolporteure." Obwohl diese in äußerst prekären Arbeitsverhältnissen stehen. Auch dass ein ganzer Schwung türkischer Jungs aus der Nachbarschaft regelmäßig die Bikekitchen besucht, freut Marianne: "Sie hängen nicht auf der Straße herum und entwickeln ein Bewusstsein fürs Fahrrad."

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Beinahe unsichtbar im Radgewirr und doch nicht zu übersehen: Das Prunkstück mit schwarz-silbernem Aufputz. Das Bike unter den Bikes. "Fahrradfetischismus" lautet ein weiterer identitätsstiftender Begriff auf der Webseite. Das Rad des Kaisers, könnte man meinen, wäre die Bikekitchen nicht antihierarchisch strukturiert. (derStandard.at,13.03.2011)

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The Vienna Bikekitchen
Goldschlagstraße 8, 1150 Wien
leider nicht barrierefrei, da Keller
tel.: +43 676 313 94 15 (oft unbesetzt - ggf. per email Kontakt aufnehmen)
info@bikekitchen.net

Bikekitchen ReparierBAR:
Jeden Donnerstag 16-24 Uhr
Selbsthilfewerkstatt: 16-20h / Community: 20-24h

Frauen-/Lesben-/Transgender-Selbsthilfewerkstatt:
Jeden 1. Freitag im Monat, 16h bis ca. 20h
Nur für Frauen, Lesben, Transgender

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