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"Der Staat hat nicht geschützt." Frauen-Demo in Ankara mit dem Porträt der geprügelten Pasali.

Foto: REUTERS/MURAD SEZER

Anwältin Elif Kabadayi Tatar

Foto: Elif Kabadayi Tatar

Der Vater nestelt an seiner Jackentasche und zieht zwei alte Zeitungsartikel hervor, sorgsam gefaltet. "Sie hat mir das nie gezeigt", sagt er, "sie hat uns das nie wissen lassen". Hüseyin Paşali ist ein kleiner freundlicher Mann vom Dorf. Jetzt wirkt er ein wenig verloren, während er darauf wartet, dass die Tür zur Ersten Kammer des Obersten Strafgerichtshofs in Ankara aufgeht.

Auf den Zeitungsausschnitten ist das Bild seiner jüngeren Tochter Ayşe, eine 41-jährige Frau mit geschwollenem Gesicht und lilafarbenen Striemen von den Schlägen ihres Ehemanns. Als wollte er sich selbst beruhigen, sagt Hüseyin: "Alle meine Kinder sind großartig. Sie sind die besten in der Türkei." Doch seine Tochter hat er verloren. Ayşe Paşali ist mittlerweile von ihrem Mann umgebracht worden.

Der Ehemann bettelte um Verzeihung

Cemal Dogan kann sich genau an den Tag erinnern, als er die Frau mit dem geschundenen Gesicht gesehen hat. Es war wieder im Justizpalast in Ankara. Dogan, der Pressefotograf der Tageszeitung Habertürk, ist regelmäßig dort. Verprügelte Ehefrauen sieht er oft, diese aber war anders. "Ayşe sah sehr traurig aus. Frauen waren um sie herum und versuchten sie zu trösten. Der Ehemann bettelte sie an, er bat um Verzeihung." Dogan drückte auf den Auslöser.

Er erfuhr erst später, was geschehen war. Paşali hatte am Wochenende auf einer Hochzeit mit ihrem Cousin getanzt. Istikbal Yetkin, ihr Ehemann, schlug sie danach zu Hause und vergewaltigte sie. Er ging mit solcher Brutalität vor, dass die Nachbarn dieses Mal nicht weghörten und die Polizei holten. Drei Tage später fuhr Ayşe Paşali zum Justizpalast und reichte die Scheidung ein, begleitet von ihrem gewalttätigen Mann. Es war der 4. März 2009. Eineinhalb Jahre nach diesem Datum, am 7. Dezember 2010, tötet Yetkin seine Ex-Frau auf offener Straße. Elf Messerstiche zählt der Gerichtsmediziner. Vergeblich hatte Paşali Polizei und Staatsanwalt um Schutz gebeten. "Ich bringe eure Mutter um", hatte Yetkin den Kindern - drei Töchter - gesagt. Es ist die Chronik eines angekündigten Mordes im Männerstaat Türkei.

Verwaltung schlief

Yetkin wird durch einen Eingang unterhalb der Richtertribüne in den Saal geführt. Vier Polizisten nehmen um den Angeklagten Aufstellung, einer mit Maschinenpistole im Anschlag für den Fall, dass jemand im Publikum eine Waffe zückt und Yetkin zu erschießen versucht. Yetkin ist ein hagerer Mann mit kurzen grauen Haaren und beginnender Glatze. Sein Mantel, den er nicht abnimmt, sitzt schlecht und macht seine Schultern spitz, was ihn noch älter und gebrechlicher erscheinen lässt. Tatsächlich ist er erst 44. Eine dunkle Hautverfärbung entstellt Yetkins rechte Gesichtshälfte.

Die Verhandlung - es ist die dritte - wird nur eine Viertelstunde dauern. Der Richter hatte im Vormonat ein psychologisches Gutachten angeordnet, um die Schuldfähigkeit des Angeklagten sicher zu stellen. Doch wieder zeigt sich die Nachlässigkeit der türkischen Justiz im Fall Paşali. „Ich bin nicht hingegangen", sagt Yetkin nur. Die Gefängnisverwaltung hat keinen Termin beim Psychologen festgesetzt.

217 getötete Frauen

"Wenn man nachfragt, werden sie mit dummen Ausreden kommen. Wir hatten kein Auto oder sonst so etwas", sagt Elif Kabadayi Tatar, die Anwältin der Paşali-Familie später. Im Gerichtssaal sitzt Kabadayi auf der linken Seite, neben ihr steht wie ein Chor in einem altgriechischen Drama ein Dutzend weiterer Anwälte, zumeist Frauen, in schwarzen Roben. Der Fall Paşali ist ein Politikum, der derzeit wichtigste Prozess in Sachen Frauenrecht. Dass der Mord mitten in der Hauptstadt geschah, unter den Augen der Justiz, und nicht irgendwo im unterentwickelten konservativen Südosten des Landes, gibt dem Fall Paşali zusätzliche Bedeutung.

217 Frauen sind im vergangenen Jahr in der Türkei von Männern umgebracht worden - von Ehemännern, Brüdern, Vätern. Alle 36 Stunden eine Frau. Von Prügel zu Mord ist es nur ein Schritt, und eine Frau prügeln, gilt im Land immer noch als akzeptabel. Wird die Polizei gerufen, so sagt Onur Tatar, Kabadayis Cousin und Anwaltskollege im Fall Paşali, sähen die Beamten nicht wirklich ein Problem. "Ihre Einstellung ist: Er ist dein Ehemann. Er kann dich lieben oder schlagen."

In der Ehe von Ayse Paşali und Istikbal Yetkin, der Arzthelferin und dem Mann, der sich als Autoverkäufer und Vertreter durchschlägt, war die Gewalt von Anfang an dabei. "Er hat sie immer bedroht", sagt Zeliha Paşali, die Mutter. „Ich habe ihn nie wirklich als meinen Schwiegersohn akzeptiert. Ich wollte ihn nie neben meiner Tochter sehen." Die Hochzeit war 1988. Was hat die Familie gewusst? Oder was wollte sie nicht wissen? Ahmet, der Bruder, zögert mit der Antwort. Er war es, dem sich Ayse am Ende anvertraut hatte und der ihr finanziell half. „Wenn wir mehr darüber gesprochen hätten, vielleicht wäre es dann anders gekommen. Aber sie wollte nie unsere Unterstützung." Und Istikbal Yetkin ist ein guter Schauspieler.

Scheidung im Juli 2010

Im April 2010 kommt Yetkin mit einer Bewährungsstrafe für unerlaubten Waffenbesitz davon. Zuvor hatte er die Kinder zu Hause um den Küchentisch versammelt und eine Pistole in die Mitte gelegt. "Ich bringe eure Mutter damit um", kündigte er an. Im Juli 2010 wird die Scheidung ausgesprochen und mit ihr eine weitere große Fehlentscheidung der Justiz. Der Richter hebt das Verbot für Istikbal Yetkin auf, sich dem Haus seiner Frau und Kinder zu nähern.

Die Begründung: Nach der Scheidung gibt es keine Ehe und keine Familie mehr, die geschützt werden müsste. Yetkin entführt seine Ex-Frau im Oktober auf dem Weg zur Arbeit und will sie umbringen. Paşali kann es ihm ausreden. Danach geht sie wieder in den Justizpalast von Ankara. Drei Stunden wartet sie auf einen Termin mit einem Staatsanwalt. Der schickt sie in einem Polizeiwagen nach Hause.

Wahrscheinlich lebenslängliche Haft

"Sie war glücklich, selbstbewusst nach der Scheidung. Sie hat nicht aufgegeben", erinnert sich Elif Kabadayi. Paşali arbeitet nun im Büro von Frauenanwältinnen. Am 7. Dezember kommt sie morgens nicht zur Arbeit. Yetkin hatte ihr auf der Straße vor dem Wohnhaus in Altindag, nahe dem Zentrum von Ankara, aufgelauert und sie schließlich niedergestochen. Kabadayi überbringt dem Staatsanwalt die Nachricht von Paşalis Ermordung persönlich. Er gibt sich überrascht. "Oh, das heißt, die Drohungen waren Ernst?"

Istikbal Yetkin wird aller Voraussicht nach eine lebenslängliche Haftstrafe unter erschwerten Bedingungen erhalten. Nach türkischem Recht bedeutet das 36 Jahre Gefängnis, zum Teil in Einzelhaft. Gegen die türkische Justiz aber werden Elif Kabadayi und Onur Tatar Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einbringen. Die Richter hätten den Mord an Ayse Paşali verhindern können, sagt Tatar. "Es war so offensichtlich, dass es geschehen würde." (Markus Bernath, DER STANDARD-Printausgabe, 8.3.2011)