Markus Müller (43) ist Facharzt für Innere Medizin und Klinische Pharmakologie und Vorstand der Universitätsklinik für Klinische  Pharmakologie an der Med-Uni Wien im AKH

Foto: Standard/Andy Urban

Christoph Abermann (39) ist Facharzt für Allgemeinmeidzin mit einer Zusatzausbildung in klassischer Homöopathie. Er hat eine Ordination in Gmunden.

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Etablierte Medizin akzeptiert Homöopathie nicht. Homöopathen ringen um Anerkennung. Der Pharmakologe Markus Müller von der Med-Uni-Wien diskutiert mit dem homöopathischen Allgemeinmediziner Christoph Abermann. Es moderierte Karin Pollack.

Standard: Die Diskussion um Homöopathie wird mit großer Häme und Polemik geführt. Warum?

Abermann: Es gibt zwei Gründe dafür. Zum einen ist der Wirkmechanismus für Homöopathie vollkommen unbekannt. Die Arzneien, die wir verabreichen, sind so hoch verdünnt, dass sich die Ausgangssubstanzen, aus denen sie hergestellt werden, nicht nachweisen lassen. Für einen nur in mechanistischen und biochemischen Kategorien denkenden Menschen muss die Homöopathie daher höchst unplausibel erscheinen. Zum anderen erfreut sich die Homöopathie aber eines regen Zulaufs. Die Schulmedizin sieht ihre Felle davonschwimmen. Die Nachricht, dass homöopathische Therapien von der Schweizer Grundversicherung ab 2012 bezahlt werden, hat die Diskussion angeheizt. Konkret ist es der Schweizer HTA-Bericht, der Homöopathie Wirksamkeit attestiert.

Müller: Ich hoffe, dass in Österreich Homöopathie nie von der öffentlichen Hand finanziert wird und hierzulande nur Therapien, die nachvollziehbar überprüft sind, bezahlt werden. Wenn wir dieses Grundprinzip nicht wahren, könnten ja plötzlich die absurdesten Theorien eine Option werden. Homöopathie und naturwissenschaftlich fundierte Medizin sind zwei unterschiedliche Planeten, die auf vollkommen anderen Denkprinzipien beruhen

Standard: Warum sind diese beiden Denkweisen unvereinbar?

Müller: Die Annahme, dass Homöopathika biologische Effekte haben, ist aufgrund der extremen Verdünnung nicht mit physikalischen Gesetzen vereinbar. Die moderne Medizin akzeptiert Therapieansätze nur dann, wenn sie in einer randomisierten, kontrollierten Studie ihre Wirkung und Unbedenklichkeit bewiesen haben. Das Prinzip lässt sich gut an einem Beispiel illustrieren: Ein Patient kommt mit Grippe zum Arzt. Der gibt ihm ein Glas Wasser und bittet ihn, in fünf Tagen wiederzukommen. Nach fünf Tagen ist die Grippe weg. Daraus könnte man schließen: Das Glas Wasser hat geholfen. Oder man könnte sagen: Die Grippe ist von selbst weggegangen. Das Problem des Vorher-nachher-Denkens ist die fehlende Kontrolle darüber, was zur Heilung geführt hat.

Abermann: Der homöopathische Erkenntnisgewinn funktioniert anders. Wir ergründen die Wirkung von Arzneien an gesunden Probanden. Dafür geben wir homöopathisch verarbeitete Substanzen über einen bestimmten Zeitraum und beobachten, welche Symptome sie entwickeln. Sie werden in der "Materia medica", dem Katalog der klassischen Homöopathie mit 3000 Arzneien und tausenden Symptomen, registriert. Und jetzt kommt der Sprung zu den Kranken: Die Homöopathie geht von der Ähnlichkeitsregel aus - Ähnliches kann mit Ähnlichem geheilt werden.

Standard: Wie funktioniert das?

Abermann: Ich bitte Patienten, ihre Symptome genau zu beschreiben, um dann das passende Mittel zu finden, das in der Arzneimittelprüfung an Gesunden ähnliche Symptome produziert hat. Als Homöopath betrachte ich nie ein einzelnes Symptom, sondern immer eine Gesamtheit. Jemand, der Kreuzweh hat, hat eventuell auch Kopfweh. Wenn ich das richtige Mittel finde, heilt es beides dauerhaft, weil es die Ursache behandelt. Dieses Phänomen überzeugt mich immer wieder, weil es sich von der Symptomunterdrückung der Schulmedizin abhebt.

Standard: Was ist Ihre Erklärung?

Abermann: Ich habe für den Wirkmechanismus keine Erklärung im naturwissenschaftlichen Sinne. Ich weiß nur: Homöopathie funktioniert. Nur weil wir Phänomene der Natur nicht verstehen, heißt es ja nicht, dass es sie nicht gibt.

Müller: Das ist aber der Punkt. Medizin bemüht sich, Theorien über Gesundheit und Krankheit zu entwickeln. Diese Theorien sind nur dann haltbar, wenn sie durch empirische Beobachtungen auf molekularer oder klinischer Ebene gestützt werden. Bei der Suche nach pharmakologischen Therapien geht es darum, definierte Angriffspunkte im Körper zu finden, sogenannte Rezeptoren, die als eine Art molekulares Schloss im Körper funktionieren. Dann bemühen wir uns, chemische Schlüssel für die Schlösser zu entwickeln.Dieses Prinzip hat zu enormen Fortschritten in der Medizin geführt.

Abermann: Schulmedizin heilt aber meiner Ansicht nach kaum je eine Krankheit, sie lindert nur Symptome. Migräne ist ein gutes Beispiel, sie kommt immer wieder. Dieses zentrale Manko hat mich zur Homöopathie gebracht, weil wir in einem beachtlichen Prozentsatz Heilung erzielen.

Standard: Auch die Naturwissenschaft versteht nicht alle Phänomene im Detail?

Müller: Nein, aber das, was wir produzieren, ist nachvollziehbar und überprüfbar. Naturwissenschaftliche Medizin schafft objektive Fakten und stellt nicht unbewiesene Theorien in den Raum.

Abermann: Oft bietet das Schlüssel-Schloss-Prinzip für medizinische Probleme aber keine Lösung.

Standard: Werden solche Phänomene naturwissenschaftlich nicht oft als Placebo-Effekt betrachtet?

Müller: Placebo, also ein Scheinmedikament, ist in der therapeutischen Praxis keine Option. Als Arzt darf ich keine Scheinmedikamente verabreichen. Nur in Zulassungsstudien dienen Placebos als Kontrolle zur Erfassung der Wirksamkeit von Arzneimitteln. Die gängige Meinung ist: Dem, was wir als Placebo-Effekt registrieren, kommt keine spezifische Wirkung zu, sondern es ist eine Mischung aus umweltbedingten Einflüssen, etwa auch Empathie. Jeder Arzt kann durch seine Persönlichkeit Placebowirksamkeit entfalten.

Abermann: Der Homöopathie wird immer wieder unterstellt, dass das lange Gespräch, das wir mit unseren Patienten führen, das therapeutische Agens sei. Doch diese Ausführlichkeit ist notwendig, um die individuellen Symptome jedes Patienten zu erfahren. Dabei berücksichtigen wir Faktoren wie etwa das Naturell eines Menschen oder sein Temperaturempfinden. Diese Dinge sind in der Schulmedizin komplett bedeutungslos, für mich aber ein wichtiger Hinweis, um eine richtige Substanz zu finden.

Müller: Der Placebo-Effekt ist deshalb bei Krankheiten, die subjektiv sehr belastend sind, hoch - etwa bei Schmerzen oder depressiven Befindlichkeitsstörungen. Das ist offenbar auch die angestrebte Domäne der Homöopathie, nicht hingegen "harte" Pathologien wie Herzinfarkt oder Krebs.

Abermann: Das stimmt nicht, ich sehe auch solche Krankheitsbilder und kann sie behandeln.

Müller: Aber Sie behandeln hoffentlich Krebs nicht homöopathisch?

Abermann: Doch, allerdings zusätzlich zur schulmedizinischen Therapie. Und natürlich haben wir auch Behandlungen für schwere Fälle. Wir publizieren sogar darüber. Ich bin Schulmediziner und Homöopath, kenne beide Welten und wähle, was ich für wirksam halte.

Standard: Wo wirkt Homöopathie nicht?

Abermann: Bei mechanischen Problemen, etwa Knochenbrüchen, hat die Homöopathie wenig anzubieten. Ebenso bei zerstörten Organen. Bei Allergien, Autoimmunerkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern, Schlafstörungen, oder Neurodermitis haben wir gute Erfolge.

Standard: Erzielen Sie bei diesen Krankheitsbildern Ihre Resultate mit denselben Substanzen?

Abermann: Nein, weil jedes Kopfweh, jede Allergie immer individuell unterschiedlich ist. Und ja, die Nachvollziehbarkeit ist eine Schwachstelle der Homöopathie, die Wurzel liegt in der Komplexität menschlicher Symptome. Die gute Nachricht: Das Ähnlichkeitsprinzip ist relativ weich, man kann also durch verschiedene Mittel zur Heilung gelangen.

Müller: Aber damit geben Sie doch zu, dass die Wahl der Mittel beliebig ist.

Abermann: Ich beobachte immer die Reaktionen auf eine Arznei und handle entsprechend. Wenn man die Gabe eines Homöopathikums absetzt, werden auch die Symptome wieder stärker.

Standard: Kann Homöopathie auch schaden?

Abermann: Bei falscher Dosierung schon. Allerdings nur bei hohen Potenzen über lange Zeit. Niedrige Potenzen, die in der Apotheke verkauft werden, sind nur bei längerer Einnahme bedenklich. Aber ja, ich bin dafür, dass homöopathische Arzneimittel, vor allem hohe Potenzen, nur auf Rezept verabreicht werden.

Müller: Homöopathische Mittel sind ja im eigentlichen Sinne nicht zugelassen, sondern nur registriert. Mir ist die Wahrung medizinischer Standards ein sehr großes Anliegen, und mangels Nachvollziehbarkeit ist dies in der Homöopathie leider nicht gegeben. Homöopathie ist ja übrigens auch nicht gratis. Im Gegenteil: Sie kann Kranken sehr teuer kommen. Dass die Rechnung Teil der Behandlung ist, wusste auch schon Sigmund Freud.

Abermann: In der Schweiz wurde Homöopathie bezahlt und hat trotzdem gewirkt. Das entkräftet das Kostenargument. Eines kann ich aber versichern: Ärzte, die homöopathisch behandeln, verdienen im Vergleich zu Schulmedizinern wesentlich weniger. Die Homöopathie ist zeitintensiv.

Standard: Ist Individualisierung nicht ein Trend in der Medizin?

Müller: Individualisierte Medizin ist ein Modewort. Mir ist der Ausdruck "stratifizierte Medizin" lieber. Wenn man den individualisierten Ansatz konsequent durchdenkt, nähern wir uns der homöopathischen Denkweise, die davon ausgeht, dass ein Patient mit einem anderen gar nicht vergleichbar ist. Das stimmt aber nicht, denn es gibt rein genetisch und physiologisch viel mehr Gemeinsamkeiten als Einzigartigkeiten. Der Trend geht in den Naturwissenschaften eher dahin, dass wir für Erkrankungen Subtypen erkennen und spezifischer behandeln.

Abermann: Im Vergleich zur Homöopathie ist diese Individualisierung aber sehr minimalistisch.

Müller: Ich bin überzeugt, dass wir in der Forschung immer in Patientengruppen denken werden, nur so ist nachvollziehbarer Fortschritt möglich.

Abermann: Tun wir ja, wir denken in 3000 Substanzen. 30 davon kommen sehr häufig zum Einsatz, weil sich 80 Prozent der Erkrankungen damit behandeln lassen.

Müller: Einige dieser Inhaltsstoffe, wie Quecksilber, sind toxisch. Oberstes Prinzip eines Arztes ist auch, keinen Schaden anzurichten. Deshalb gibt es bei Arzneimitteln auch die strenge Nutzen-Schaden-Abwägung. Ihrem Ansatz nach müsste diese Abwägung konsequenterweise dann auch für die Homöopathie gelten.

Abermann: Ich hätte nichts dagegen. Es geht darum, entsprechende Studien zu initiieren. Interessant ist, dass Homöopathie hilft. Das erscheint mir wichtiger als die Theorie.

(Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 07.03.2011)