"Stigmatisierte" Zuwanderersprachen wie Kurdisch verschwinden schneller als "prestige-trächtige" wie Spanisch, fand Katharina Brizić heraus.

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Kurt de Swaaf unterhielt sich mit ihr über den "Sprachtod".

STANDARD: Laut der von Ihnen und Ihren Kollegen durchgeführten Studie spricht mehr als die Hälfte der acht- bis elfjährigen Kinder an Wiener Volksschulen mindestens zwei Sprachen, entweder zu Hause, in der Schule oder mit Freunden. Hat Sie diese hohe Zahl überrascht?

Brizić: Nein. Es war zu erwarten, dass die Durchmischung der Sprachen zunimmt. In immer mehr Familien ist überhaupt nicht mehr klar, was genau die Muttersprache der Kinder ist. Es wird immer komplexer und vielfältiger, wie ein Menü, bei dem mehrere Köche mitwirken.

STANDARD: Wien war allerdings schon zu k. u. k. Zeiten eine multiethnische, vielsprachige Stadt. Nichts Neues also?

Brizić: In der Tat nicht. Wir haben uns eher ein bisschen zurückbewegt, zu weniger Mehrsprachigkeit. Man verbindet heute mit den Einwanderersprachen aus dem Südosten oft etwas Negatives.

STANDARD: Mehrsprachigkeit hat vor allem dann, wenn es um Schule, Bildung und Integration geht, keinen guten Ruf. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Brizić: Was die Schule betrifft, hat man die Lehrer einfach nicht mit dem Wissen und den Mitteln ausgestattet, um die Mehrsprachigkeit für den Bildungserfolg zu nutzen. Viele Lehrkräfte gehen damit zwar sehr kreativ um und entwickeln ihre eigenen Lösungen, aber das übergeordnete Konzept fehlt.

STANDARD: Ist Sprachenvielfalt das Problem?

Brizić: Nein. Das Problem ist, was das Bildungssystem damit macht. Die Kinder beherrschen die Sprachen meist sehr unterschiedlich. Deutsch hat bei ihnen ein ganz hohes Prestige, viele andere Sprachen werden hingegen zwar gesprochen, aber nicht schriftlich erlernt. Man sollte das unterrichten. Der Bereich Schule ist natürlich auch sehr stark den üblichen gesellschaftlichen Verdächtigungen und Stereotypen ausgesetzt.

STANDARD: Wieso?

Brizić: Schulen, an denen es viele mehrsprachige Kinder mit Migrationshintergrund gibt, haben einen schlechten Ruf. Das liegt eben an dem schwachen wirtschaftlichen Status derjenigen, die bestimmte Sprachen sprechen. Das Schulsystem muss helfen, diese sozialen Differenzen in unserer Gesellschaft auszugleichen. Durch Ganztagsschulen und Gesamtschulen mit individualisierter Betreuung. So könnte man den Kindern insgesamt bessere Bildungschancen eröffnen.

STANDARD: Welche positiven Aspekte gibt es, wenn Kinder mehrsprachig aufwachsen?

Brizić: Das Interessante ist, dass solche Schüler anscheinend eine gesteigerte sprachliche Abstraktionsfähigkeit haben. Sie führen die Struktur von Sprache eher auf Zufall zurück und nicht auf Bestimmung. Mit anderen Worten: Der Tisch heißt im Deutschen zufällig Tisch, und nicht etwa, weil eine höhere Macht das so bestimmt hat. Das macht mehrsprachige Kinder offener dafür, um auch prestigeträchtigere Sprachen wie zum Beispiel Englisch zu lernen.

STANDARD: Der Titel Ihres Forschungsprojekts lautet: "Bildungserfolg bei Sprachtod?" Was genau ist damit gemeint?

Brizić: "Sprachtod" ist, wenn Sprache auf die eine oder andere Weise verlorengeht. Das ist immer schon passiert. Wenn das Sprechen einer Sprache jedoch mit Angst verbunden ist – nach dem Motto: Wenn ich das spreche, passiert etwas Negatives -, dann handelt es sich um aktives Verlernen, Sich-selbst-Zurückstellen, eine Ver-Lern-Erfahrung. Und wir müssen uns fragen, ob wir uns für einen durchgängigen Bildungserfolg aller sozialen Gruppen diese vielen Ver-Lern-Erfahrungen wirklich leisten können und wollen.

STANDARD: Gibt es Zuwanderersprachen, die deutlich stärker von Generation zu Generation weitergegeben werden als andere?

Brizić: Das sind vor allem die prestigeträchtigeren wie Englisch, Französisch und Italienisch, zum Teil auch solche aus wirtschaftlich bessergestellten Regionen wie zum Beispiel Slowenisch, und bei gebildeten, städtischen Familien auch Türkisch. Stigmatisierte Sprachen und Dialekte wie ländliches Türkisch oder Romanes verschwinden dagegen viel schneller, weil sich Zuwanderer dafür schämen.

STANDARD: Ihre eigenen familiären Wurzeln liegen zum Teil in Kroatien. Wie sind Sie denn selbst sprachlich aufgewachsen? Wie kam das Interesse an Sprachwissenschaften?

Brizić: Ein- und dreiviertelsprachig. Deutsch hat die Hauptrolle gespielt, weil mein Vater als Zuwanderer diese Sprache inhalierte und auch mit seinen Kindern ausschließlich Deutsch sprach – das, wovon wir Linguisten heute eher abraten. Aber ich habe mich sehr schnell für die Sprache interessiert und trotzdem Kroatisch gelernt, was meinen Vater übrigens begeisterte. Ich lauschte des Öfteren seinen Telefongesprächen. Außerdem waren auch immer wieder Verwandte aus aller Welt bei uns zu Besuch. Das hat bei mir das Interesse an anderen Sprachen entfacht und genährt.

STANDARD: Gute Deutschkenntnisse gelten als Schlüssel zur erfolgreichen Integration. Wird mehrsprachiges Aufwachsen jedoch nicht gleichzeitig zu einem entscheidenden Vorteil, wenn man sich in einer immer stärker globalisierten Welt frei bewegen will?

Brizić: Ja. Die Erfahrung der Vielfalt macht uns als Menschen fit für die modernen Gesellschaften. Es ist wichtig, global zu denken, weil wir sonst nicht verstehen können, was lokal vor sich geht. Es gibt keine "internen Angelegenheiten" mehr. Mit provinziellem Denken können wir die großen Zusammenhänge nicht begreifen. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 02.03.2011)