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Foto: Thomas Rottenberg

Am Sonntag, zwei Tage nach unserem Abschied von Strbske Pleso, kam ein Mail von Matthias. Unser Bergführer schrieb, er sei jetzt wieder in St. Anton am Arlberg, bereits wieder im Einsatz und wolle eines festhalten: Die Powder- und Schneeverhältnisse seien am Arlberg derzeit ebenso wenige euphorisierend, wie zuvor in der Hohen Tatra. Doch im Unterschied zum slowakischen Klein-Hochgebirge sei hier ein Vielfaches an Leuten im Gelände "und das Bier kostet 400 Prozent mehr".

Nicht, dass jemand allen Ernstes die kleinen Skigebiete im slowakischen Nationalpark mit dem Mekka des heimischen High-End-Skifahrens vergleichen würde: Die Hohe Tatra im Allgemeinen und das rund um einen romantischen Bergsee situierte Strbske Pleso im Besonderen, kann und will (abgesehen vom auch kostenmäßig durchaus arlbergkompatiblen Kempinski, das wir uns aber nicht leisten konnten/wollten) weder hotel- noch liftanlagentechnisch mit den Alpen konkurrieren. Doch wer weder Aufriss und Remmidemmi noch Schirmbar braucht, weiß das zu schätzen.

Im Kern hatte der Bergführer, mit dem wir eine Woche die slowakischen Hänge (und einen Tag die polnischen) erkundet hatten, also recht: Wer im Backcountry fährt, findet hier, vier Autostunden östlich von Bratislava, wohl ebenso viele und spannende Möglichkeiten, wie am Arlberg. Vielleicht sogar eine Spur mehr – aber das kann auch daran liegen, dass man weniger lange braucht, unverspurtes Terrain zu finden. Einen Kessel zu entdecken, in dessen Hängen man eine "First Line" nach der anderen setzen kann, bedarf hier weniger Glück – einfach, weil weniger Leute unterwegs sind. Und auch die sind oft eher am Aufstieg als an Abfahrten interessiert: Slowakische Skitourengeher sind oft Old-School-Tourengeher. Also im Anstieg meist unheimlich schnell. Das liegt auch an ihrer "klassischen" Ausrüstung, also schmalen, sehr leichten Skiern. Beim Anstieg sind die super – bei der Abfahrt machen sie weniger Spaß, als schwerere und breite Freeride-Skier.

Höhe ist relativ

Die Hohe Tatra gilt als das kleinste Hochgebirge Europas. Ihre Gipfel sind selten höher als 2400 oder 2500 Meter. Das Gebirge streckt sich in Ost-West-Richtung durch das Grenzgebiet von Slowakei und Polen. Quertäler gibt es, aber die meisten Hänge und Rücken haben dennoch entweder eine Süd- (in der Slowakei) oder Nord- (in Polen) Exposition. Tourentechnisch ist das fein: Aufstiege und Abfahrten liegen in der Slowakei meist in der Sonne. Das kann durchaus was – vor allem, bei zweistelligen Minus-Temperaturen im Tal. Nicht gefühlt, sondern gemessen. Außerdem geht es hier schon ab 1300 Metern richtig hochalpin zu: Baum- und die Latschengrenze liegen niedriger als in Österreich. Und ob der "Drop in" in steile Hänge und enge Rinnen auf 2100 oder 3300 Metern liegt, ist ja eigentlich wurscht. Höhe sei relativ, erklärten uns auch slowakische Exrem-Bergsteiger, die wir auf einem Sattel – auf etwa 2200 Metern – trafen. Die vier waren in voller Himalaja-Adjustierung unterwegs, hatten Iso-Matten und Biwak-Zeugs mit – und machten eine mehrtägige Grat-Wanderung. Sie trainierten für hochalpine und extreme Expeditionen. Wenn es um Technik und Skills geht, sei Höhe bloß eine relative Größe. Außerdem sei die Hohe Tatra einfach wunderschön.

Foto: Thomas Rottenberg

Daran, dass die slowakischen Alpinisten damit recht haben, ändern auch die in tieferen Lagen immer noch unübersehbaren Windschäden, die ein Sturm im Jahr 2004 hier anrichtete. Binnen einer halben Stunde hackte der Orkan damals eine vier Kilometer breite und über 30 Kilometer lange Schneise in den Wald. Fast 12.000 Hektar jenes Naturschutzgebietes, auf das Slowaken wie Polen mächtig stolz sind, wurden abgeholzt – zum Teil liegen die Stämme noch so, wie sie fielen: als hätte ein Riese Mikado gespielt. Schon beim Durch- und Vorbeifahren kann es einen da frösteln. Dem Respekt vor dem, was die Natur im Handumdrehen zustande bringt, ist das aber alles andere als abträglich – und am Berg steht dieser Respekt jedem gut an.

A propos Respekt: Das Gebiet ist Nationalpark. Das ist gut – und mitunter mühsam. Denn Autos muss man weitab der Toureneinstiege auf nicht sehr Vertrauen erweckenden Parkplätzen abstellen ("Spinnt ihr – oder wollt ihr den Wagen los werden?" fragt ein Tourengeher einmal unterwegs) – um dann, selten unter eineinhalb Stunden, auf Wald- und Ziehwegen durch den Wald (oder den Windwurf) zu gehen. Erst dann beginnen Spuren die Flanken hinauf zu führen, um sich zwischen den Latschen auf 1001 Varianten aufzuteilen. Oberhalb der Latschengrenze beginnt die Freiheit. Hinter Geländekanten verbergen sich oft malerische, zugefrorene Bergseen. Auf Felsen und Graten stehen Tatra-Gämsen und trotten ohne Hast davon. Der sich schnaufend nähernde Trupp wird eindeutig als "ungefährlich, da träge und langsam" gewertet. Und beim Blick ins Tal verliert sich das Auge irgendwo in der Unendlichkeit des Flachlandes. Die Hohe Tatra hat keine – oder kaum – vorgelagerte Berge oder Hügelketten.

Just do it

Ob das, was wir hier tun ganz legal ist, ist nicht ganz klar: Zahlreiche Schilder weisen auf die sensible Flora und Fauna hin. Das Verlassen der Wanderwege ist offiziell nicht gestattet. Doch Peter, der Chef der Bergbahnen von Strbske Pleso und Bergführer in der Region, empfiehlt uns dennoch, unsere eigenen Wege zu suchen. Auch auf den wenigen bewirtschafteten Hütten, die man am Ende mancher Ziehwege findet und an denen slowakische Tourengeher für mehrere Tage ihre Basislager aufschlagen, heißt es „macht nur": Jeder geht, wo es ihn freut – und wo es sicher scheint. Und niemand – auch nicht der slowakische Park-Aufseher, der mit Range Rover und Hund einmal unseren Weg kreuzt, erwähnt etwas von Verboten. (Und die Windbruch- und Latschensafari, die wir einmal, nach einem versäumten Ausstieg aus einem Hang, erleben, ist ohnehin Strafe genug: Absichtlich tut sich so was wirklich niemand an.) Im Gegenteil: Angesichts der nicht gerade umwerfenden Schneeverhältnisse fragen auch die Slowaken – lokale Bergführer, Tourengeher und Hüttenleute gleichermaßen – wo wir denn unterwegs gewesen wären. Und wo wir jene Hänge und Spots gefunden haben, von denen wir schwärmen.

Foto: Thomas Rottenberg

Eines ist aber klar: Die Tatra ist keine Region, in der man jeden Tag vom gleichen Startpunkt aus loslegt. Wer hier tourt, macht etliche Kilometer im Auto. Wo wir schon da wären, meint Strbske-Pleso-Bergführer Peter, sollten wir auch die polnische Seite testen: Rund um Zakopane gäbe es vielleicht mehr Schnee – weil die Backcountry-Hänge dort nicht so der Sonne ausgesetzt wären. Dass Tourengeher und Freerider dort (siehe "Freeriden ist kein Verbrechen") systematisch abgestraft werden, erstaunt und verblüfft ihn und andere: "Wir schicken unsere Gäste immer genau dort hin, wenn es bei uns im Gelände schneetechnisch nicht passt." Das hören wir nicht nur einmal.

Faustrecht beim Anstellen

Nach fünf Tourentagen haben sogar wir Lust auf ein paar Stunden Piste. Und machen am Heimweg in Jasna Station. Jasna ist das größte Skiressort der Hohen Tatra. Und wäre zum Pistenfahren (und ins Gelände ausbüchsen) gar nicht so übel – wäre da nicht die etwas seltsame Anstell-Policy. Die Lifte sind modern und leistungsfähig (Vierer- und Sechser-Sessellifte, Gondelbahnen, etc ...), doch beim Zustieg wird bloß paarweise (elektronisch) abgefertigt. Und den Weg zum Ticketcheck regeln nicht sich verjüngende Fangzaun-Korridore, sondern das Gesetz des Ski-Dschungels: Im Halbkreis drängt alles und jeder aus jeder Richtung auf das Nadelöhr – und wer sich je am mitunter recht „pushy" wirkenden Anstell-Verhalten von Bewohnern ehemaliger Ostblockstaaten an österreichischen Hotelbuffets gestoßen hat, der sollte sich hier den (mitunter nationalistisch geprägten) Infight von Slowaken, Polen, Bulgaren, Tschechen und Rumänen ersparen.

Freilich haben Gedränge und langes Anstehen auch einen Vorteil: Die Pisten sind trotz der übervollen (und durch ein meist gut funktionierendes Shuttlesystem erschlossenen) Parkplätze angenehm leer. So wie in Österreich vor 15 Jahren. Nur: Um das zu erleben, sind wir nicht hier – und das sehen auch die Slowaken so. Abends, bereits in Bratislava, fragt uns ein Taxifahrer, ob wir ihn verarschen: "Ihr seid aus Österreich – und kommt in die Slowakei zum Skifahren? Geht es euch gut?" Wir lachen und erzählen. Am Ende der Fahrt ist der Taxifahrer dann richtig stolz. Auf "seine" Berge – und wünscht uns für das nächste Mal "mindestens einen Meter Powder." (Thomas Rottenberg/derStandard.at)