9/11 ist von gestern. Spätestens seit dem 11. September bestimmt der Gegensatz zwischen „hier" und „dort" die Debatte um den Islam: Hier der Westen, dort der Islam. Hier Demokratie und Freiheit, dort Dschihad und Unterdrückung. Diese Gegenüberstellung war das Fundament, auf dem Islam-Kritiker und Rechtspopulisten überall in Europa ihr Weltbild errichtet haben. Die Steine dabei waren fanatische Gotteskrieger, verschleierte Frauen und autokratische Herrscher.

9/11 war gestern

9/11 aber ist von gestern, seit die Menschen in der arabischen Welt auf die Straße gehen. Denn seither passt diese Zweiteilung des Weltbildes nicht mehr: Welcher Teil der Welt steht nun für Freiheit und Demokratie? Gehören nun nicht auch die Demonstranten zwischen Marokko und Iran - die meisten muslimisch - jetzt dazu?

Die Umstürze bringen das Weltbild der Islam-Kritiker ins Wanken. Ihre bisherige Vorstellung und Argumentation wird gegenwärtig sogar noch umgekehrt: Muslime stehen auf für Freiheit und Demokratie - und werden von Herrschern niedergedrückt, die von Europäern gestützt werden. Muslime scheinen zu Demokraten zu werden, Europäer scheinen Terror zu unterstützen. Islam-Kritiker haben auf diese Veränderung der Weltlage noch keine Antwort gefunden.

Geert Wilders, der Rechtspopulist in den Niederlanden, der den Islam eine „faschistische Ideologie" nennt und den Koran mit „Mein Kampf" vergleicht, scheint verstummt. Einzig: Er tickerte seine Ansichten zum Thema in zwei Twitter-Meldungen in insgesamt 277 Zeichen. Kurz und knapp der Inhalt: Islam und Demokratie passen nicht zusammen. Am Wochenende hat er zusätzlich ein krudes Interview gegeben, in dem er sich in den eigenen Antworten verheddert. Davon abgesehen war es in den vergangenen Wochen still um Wilders, der sonst keine Gelegenheit auslässt, sich zum Islam zu äußern.

Auch von den anderen rechts-orientierten Islam-Feinden in Europa - Jean-Marie Le Pen in Frankreich, Heinz-Christian Strache in Österreich - ist wenig zu hören. Islam-Kritiker wie Ayaan Hirsi Ali, Afshin Ellian und Henryk M. Broder, die sich sonst vor Debatten nicht scheuen, schweigen. Rechts herrscht Ruhe.

Das schwarz-weiße Weltbild hat ausgedient

Für sie ist es endgültig Zeit, sich vom schwarz-weißen Weltbild zu verabschieden. Hier Freiheit, dort Terror - das ist heute unglaubwürdiger denn je. Auch das Menschenbild von Muslimen, das die Kritiker vielfach nach dem 11. September gezeichnet haben, taugt nicht mehr. Die Vorurteile von aggressiven Jugendlichen, bärtigen Terroristen und unterdrückten Frauen haben Wilders in Holland und Populisten überall in Europa zu verbreiten versucht.

Die Berichte aus der arabischen Welt zeichnen aber ein sympathisches, ein modernes Bild der arabischen Welt. Sie zeigen: Engagierte, politisch interessierte Muslime sind keine Dschihadisten. Statt muslimische Immigranten zu dämonisieren, eine Islamisierung und das Ende Europas zu fürchten, sollten Kritiker die Augen öffnen - und ihr eigenes Weltbild an die Realität anpassen. (derStandard.at, 28.2. 2011)