Wien - Was als Erstes auffällt: Sie ist verdammt schnell. Mia hetzt durch ihren Block, mit sportlichen Hosen, in Turnschuhen. Wer sie anspricht (oder wen sie anspricht), zieht den Kürzeren, so prompt kommt der verbale Gegenschlag. Nichts anderes geschieht, wenn sie sich allein einer Bande von Mädchen entgegenstellt. Man übersieht beinahe, wie sie einer Kontrahentin die Stirn auf die Nase schlägt. Diagnose: Bruch. Also Treffer.
Mia ist die 15-jährige Hauptfigur aus Andrea Arnolds Spielfilm Fish Tank, der bereits 2009 in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Verkörpert wird sie von Katie Jarvis, einer großartigen Newcomerin, die Arnold auf einem Bahnhofsgleis "entdeckt" hat - als sie gerade Streit hatte. Mia ist eine ganz gegenwärtige Figur: Sie offenbart sich aus dem Moment heraus. Jede Empfindung wird an ihr recht unmittelbar nachvollziehbar. Da Mia erst langsam ihre Persönlichkeit entdeckt und ihr bestimmtes Auftreten ein sensibles Inneres verbirgt, können ihre Stimmungswechsel oft überraschen.
Fast jeder erfolgreiche Filmemacher erhält eine Marke, mit der man ihn oder sie besser zuordnen kann. Von Andrea Arnold heißt es, dass sie die britische Schule des Sozialrealismus um neue Energien bereichern würde. Dabei zielte schon ihr ambitioniertes Langfilmdebüt Red Road über Milieurealismus hinaus. Wirklichkeit erschien darin als eine visuelle Anordnung. Eine Frau, die die Welt durch Überwachungskameras betrachtet, war die zentrale Heldin.
Dysfunktionale Familie
Fish Tank, der von dysfunktionalen Familienverhältnissen in einer Siedlung am östlichen Rand Londons erzählt, mutet da auf den ersten Blick schon traditioneller an. Doch auch hier geht es, anders als bei Mike Leigh oder Ken Loach, nicht nur darum, Lebens- und Gefühlswelten möglichst genau zu erkunden. So präzise Arnold auch den harschen Tonfall zwischen einer alleinerziehenden Mutter und ihren beiden Töchtern trifft, will sie doch mit der Figur von Mia auf eine höhere Befindlichkeit hinaus: Die sinnliche Wahrnehmung dieser jungen Frau, die nur dem Anschein nach mit dem Kopf gegen die Wand rennt, will sich der Film auch ganz bildlich zu eigen machen.
Wiederholt gibt es in diesem Film Szenen, in denen eine Figur eine andere beobachtet und daraus noch keinen taktischen Vorteil zieht. Der eine sieht zu, wie die andere ist, wenn sie sich nicht beobachtet fühlt. Beispielsweise beim Tanz, was Mia am liebsten heimlich zu HipHop, etwa von Erik B and Rakim, tut. Als sie Connor (Michael Fassbender), der Freund ihrer Mutter, dabei einmal ertappt, ist zwischen den beiden sofort eine erotische Spannung spürbar, die Arnold noch in einigen anderen Szenen ausbauen wird.
Einmal trägt er die schlafende Mia beispielsweise fürsorglich ins Bett: In solchen Schwebezuständen, in denen bereits ein sexuelles Tabu angedeutet wird, hat Fish Tank seine aufregendsten Momente. Während sich Mia von diesem Mann verstanden fühlt und sich zunehmend öffnet, bleibt bei ihm unklar, wie viel Abgründe in ihm wohnen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Balance zu kippen beginnt.
Am Ende will Arnold mit ihrem Film erzählerisch dann vielleicht doch eine Spur zu weit hinaus. Sie spinnt sich eine zu überzogene Aktion aus, die wie aus einer Arbeit der Dardenne-Brüder wirkt, und riskiert dabei, die flirrenden Momente davor, die mehr offen ließen, vergessen zu machen. Auf jeden Fall darf man darauf gespannt sein, was diese Regisseurin mit einer literarische Vorlage wie Emily Brontës Wuthering Heights macht - in ihrem nächsten Film, der kurz vor der Fertigstellung steht. (Dominik Kamalzadeh/ DER STANDARD, Printausgabe, 25.2.2011)