Flaggen und Kleidungsreste an Rettungszelten: "Antarctic Village" von Jorge und Lucy Orta.

Foto: Orta

Pechschwarz legt sich wie ein Mantel um die Insassen. Es ist so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht sieht. Auch jedes Geräusch wird von den gepolsterten Wänden geschluckt. Klaustrophobisch veranlagt darf man nicht sein, wenn man mit diesem Lift, einem Werk des dänischen Künstlers Olafur Eliasson von 2005, in die oberste Etage fährt. Your loss of senses heißt dieses permanente Stück angewandter Kunst sehr treffend: ein in seiner sinnneutralisierenden Form geradezu irrealer Raum, eine Kapsel, die seine Fahrgäste irgendwo anders wieder ausspuckt. Ein Transport ins Undefinierte, Unbekannte? Das passt.

Denn "Anderswo", Ailleurs, so titelt auch die aktuelle Präsentation im Espace Louis Vuitton, jenem seit 2005 regelmäßig mit ambitionierten Ausstellungen bespielten Räumen im Flagship-House des Luxusherstellers auf den Champs-Elysées. Diese folgt den Spuren künstlerischer Expeditionen, der Produktion und Präsentation von Kunst weit entfernt von den oft klinischen White Cubes dieser Welt; bisweilen bis ans Ende der Welt, in unendliche Weiten der Steppe und des Eises.

Aufgehende Sonne

Für diese Flucht des Künstlers aus den ihn beengenden, ihn womöglich geistig beschränkenden Räumen stehen drei Künstler Pate: Wenig verwunderlich Paul Gauguin für seine Ausflüge in die Südsee, aber auch Giovanni Anselmo. Den italienischen Arte-Povera-Künster prägte eine nächtliche Besteigung des Vulkans Stromboli 1965. Als er den Kraterrand erreichte, projizierte die aufgehende Sonne Anselmos Schatten nicht auf den Erdboden, sondern, wie dem Künstler schien, ins Unendliche.

Seither sucht er "das Immaterielle materiell erfahrbar zu machen und mithilfe des Sichtbaren das Unsichtbare zu zeigen". Der Dritte im Bunde der Abenteuerlustigen ist Bas Jan Ader, der 1975 auf seiner romantischen, wegen fehlender nautischer Kenntnisse auch blauäugigen Suche nach dem Mirakulösen für immer verschwand: Mit einem Ein-Mann-Segler hatte er sich todesmutig aufgemacht, den Atlantik zu überqueren.

Es ist das Wundersame, das Geheimnisvolle, das auch Joanna Malinowska zu beschwören versucht. Mit dem Titel In Search of the Miraculous, Continued ... schließt ihre dreiteilige Videoserie direkt an Bas Jan Ader an, schafft Settings, wo sich Alltägliches und Poetisches treffen. So taucht ein Ghettoblaster mitten in der kanadischen Arktis bei 28 Grad unter null, die Eislandschaft in die friedlichen Klaviertöne von Bachs Goldberg-Variationen (1981 eingespielt von Glenn Gould, der eine Passion für den Norden hatte). Die absurde, nicht logische Situation, die aber rein theoretisch in alle Ewigkeit fortdauern könnte, war es, die Malinowski interessierte.

Eine Expedition, die gar nicht in die Ferne, sondern in die Tiefe führte, dabei aber in der Tat neue Erfahrungen erschloss, ist das Projekt von Laurent Tixador und Abraham Poicheval. Wie Maulwürfe bewegten sie sich 20 Tage lang unter Tage: Das vorne ausgehobene Erdreich "warf" man wieder hinter sich. Die einzige Verbindung zur Außenwelt: ein Rohr, durch das Atemluft ins mobile Grab gepumpt wurde.

Die überzeugendste, weil politischste Arbeit ist jedoch jene von Lucy und Jorge  Orta, die in der neutralen, territorialen Freizone der Antarktis bunte Zelte aufstellten mit Flaggen drauf oder mit einem Emblem der Charta 13.3 Antarctica. Es ist eine Arbeit, die 2007 während der "End of the World"-Biennale entstand. Ihre Formen sind etwa von Fallschirmen hergeleitet und erinnern an Projekte wie die "Refuge Wear", die die studierte Modedesignerin Lucy Orta für Flüchtlinge entwickelte. Skulpturen mit hinweisendem und funktionalem Charakter. Orta sieht in ihrer Arbeit Statements für eine fairere, gerechtere Welt. Ist wirklich die Eiswüste der letzte Ort, der "Fremden" Freiheit und Zuflucht schenkt?  (Anne Katrin Feßler aus Paris / DER STANDARD, Printausgabe, 24.2.2011)