Eitel, aber "ohne Schnörksel": Claus Raidl.

Foto: STANDARD/Hendrich

OeNB-Präsident Claus Raidl hinterfragt seit '68, als er mit Mädchen sein Studentenheim stürmte, jedes Dogma. Wie er als Fast-Linker Privatisierer wurde und der Mutter die Voest-Pension strich, erfragte Renate Graber.

STANDARD: (Lachen im Vorzimmer) Oh, Sie haben es lustig im Präsidium der Notenbank?

Raidl: Sicher, wo ich bin, wird immer gelacht. Das wird der Max sein (Kothbauer; Vizepräsident der OeNB; Anm.): immer gut gelaunt.

STANDARD: Sie sind seit Jahresbeginn Pensionist und nun nur noch Präsident des OeNB-Generalrats. Sind Sie tätig oder arbeiten Sie?

Raidl: Sie zitieren Androsch. Er sagte: "Ich kann's mir leisten, nicht zu arbeiten, ich bin tätig." Also, ich habe hier ein Büro, das ist wunderbar für meine OeNB- und alle anderen Aktivitäten. Ich muss daher keine Gschaftln annehmen, wie andere Pensionisten, nur um an Infrastruktur zu kommen. Und ja, ich arbeite ernsthaft. Ich würde sowieso nie sagen, dass mir Arbeit Spaß macht. Arbeit und Spaß, das schließt sich aus; die Welt ist nicht gspaßig, Arbeit auch nicht. Aber Freude habe ich an der Arbeit.

STANDARD: Ich dachte, es wird immer gelacht, wo Sie sind?

Raidl: Weil es immer spaßige Situationen gibt. Ich habe aber auch in den schlimmsten Zeiten versucht, Leichtigkeit zu bewahren ...

STANDARD: ... Ende1985, als die Verstaatlichte pleite ging und Sie in den ÖIAG-Vorstand gingen?

Raidl: Ja, wir feiern ja sozusagen gerade 25 Jahre Verstaatlichten-Pleite. Jeden Tag habe ich damals mit der Frage begonnen: "Was ist die Horrormeldung des Tages"?

STANDARD: Und was war die schlimmste für Sie persönlich?

Raidl: Als ich aus der Zeitung erfahren habe, dass ich im Noricum-Waffenprozess angeklagt werde. Was die Unternehmen betrifft, haben wir damals täglich Horrormeldungen bekommen.

STANDARD: Ihr Schreibtisch ist aber fast so leer wie der von Christian Konrad. Wie machen Sie das?

Raidl: Weil noch alle Unterlagen im Safe da hinten sind. Bei Böhler-Uddeholm lagen manche Stöße Jahre auf meinem Tisch. Als ich jetzt mein Büro räumte, hatte ich den Grundsatz: Was ich zwei Jahre nicht angeschaut habe, werfe ich weg. Es wurden drei dieser großen Alu-Container. Aber sehen Sie das blaue Ding am Schreibtisch? Das kennen Sie nicht.

STANDARD: Zwei Eisenstücke?

Raidl: Das ist ein Schwebemagnet, den mir Böhler geschenkt hat. Im Ybbstal haben wir die erzeugt ...

STANDARD: Im Werk dort war Ihr Vater einst Direktor.

Raidl: Ja, und das physikalische Phänomen Schwebemagnet – zwei Metallstücke, zwei Gegenpole, die einander abstoßen – faszinierte mich schon als Kind. Das Magnetwerk habe ich dann übrigens geschlossen, keine Chance gegen die Konkurrenz. (Zur Fotografin:) Sitzt mein Sakko? Wobei, mir ist es egal, ich bin nicht eitel.

STANDARD: Ich kenne nur uneitle Manager. Ihr Kollege Sekyra nannte Sie "nicht barock, aber gotisch eitel". Wie meinte er das?

Raidl: Dass ich ohne Schnörksel eitel bin. Ich hatte ihm damals erzählt, dass ich einen Orden abgelehnt habe, das nannte er "Übersteigerung der Eitelkeit". Er meinte wohl: "Aus Angst, dass du nicht den dir in der Höhe zustehenden Orden bekommst, sagst du lieber gleich Nein." Aber jetzt habe ich eine Auszeichnung angenommen.

STANDARD: Einen Orden für den Opernball? Wobei, die Notenbank hat heuer gar keine Loge.

Raidl: Stimmt. Ich habe den Ehrenring der Stadt Kapfenberg bekommen. Das freut mich sehr. Ich bin im Werksspital geboren, ging in den Werkskindergarten, habe 15 Jahre in einer Werkswohnung gelebt. Ab 1982 war ich über die ÖIAG beruflich wieder dort.

STANDARD: Sie tragen ihn nicht?

Raidl: Ich habe ihn aber da (holt den Ring). Für's Foto wollte ich ihn nicht tragen, ich bin ja nicht eitel.

STANDARD: Die OeNB wird Sie nicht auslasten. Werden Sie Ihr Volksbegehren für eine Verwaltungsreform organisieren? Sie sind ja ein großer Föderalismuskritiker.

Raidl: Ich führe Gespräche in diese Richtung. Weil doch so viel Geld durch Doppelgleisigkeiten verschleudert wird. Meine Hoffnung war immer, dass die SPÖ diesen Föderalismus bricht; aber seit sie auch vier Landeshauptleute stellt, ist es ganz vorbei. Die sind, bis auf Frau Burgstaller, genauso begehrlich wie die der ÖVP. Das Problem ist, dass die Bundesparteivorsitzenden von SPÖ und ÖVP so stark vom Willen ihren Landesparteichefs abhängig sind, besonders, wenn sie auch noch Landeshauptleute sind. Denn die bestimmen de facto die Nationalratswahllisten und finanzieren Wahlkämpfe und Kampagnen. Das führt zu einem innerparteilichen Patt. Die Landeshauptleute haben dadurch mehr Einfluss als ihnen verfassungsrechtlich zusteht.

STANDARD: Die Landeshauptleutekonferenz wird geradezu hofiert ...

Raidl: ... und ist in Wirklichkeit ein Nullum. Nicht einmal ein Verein, nur eine Zusammenkunft.

STANDARD: Sie waren Vorsitzender der Hochschülerschaft an der Hochschule für Welthandel, CV-Präsident, Fraktionsführer des ÖAAB in der Arbeiterkammer. 1979 haben Sie für den Nationalrat kandidiert; aber der ÖVP hat ein Mandat gefehlt. 1982 gingen Sie in die Verstaatlichte. Seither sagen Sie, Sie würden nie in die Politik gehen. Warum nicht?

Raidl: Was werden Sie mir noch erzählen von mir?

STANDARD: Dass kaum wer weiß, dass Ex-Casino-Chef Leo Wallner Ihr Cousin ist.

Raidl: Unsere Mütter waren Schwestern, sein Vater mein Taufpate. Ich frage mich oft, warum ich nicht Politiker wurde. Ich war überall aktiv, fast ein Gschaftlhuber. Als Junger war ich fast links ...

STANDARD: Weil Sie 1968 ein Mal Rudi Dutschke in Berlin zuhörten?

Raidl: Ich war eine Woche in Berlin. 68 prägte mich sehr: Ich habe gelernt, dass man jede Autorität, jedes Dogma in Frage stellen kann. Das ist mir bis heute geblieben.

STANDARD: Sie verdanken doch alle Jobs dem Dogma Proporz? 1981 schickte Sie Wiens VP-Vizebürgermeister Busek in die Wiener Holding, für das schwarze Mandat in der ÖIAG empfahl Sie 1982 Kreisky-Sekretär Lacina, mit dem Sie in der ÖH waren.

Raidl: Stimmt, ich bin ein Produkt des Proporzes. Das habe ich auch nie verschwiegen. Auch der OeNB-Präsident ist eine parteipolitische Besetzung – aber immerhin ein Novum, dass ein Mann aus der Realwirtschaft hier sitzt. Und Sie müssen schon wissen: 1985 war die Voest de facto pleite, ich wurde 1986 Finanzvorstand, weil den Job keiner wollte. Dann wurde ich im Noricum-Waffenprozess verurteilt, obwohl ich keine Ahnung von den Waffengeschäften hatte. Erst der OGH sprach mich frei. Und Böhler war 1991, als ich Chef wurde, in einer tiefen Krise.

STANDARD: Als Manager waren Sie dann nicht mehr links, sondern Privatisierer und "Marktradikaler", wie Hans-Peter Martin sagte. In Schweden kündigten Sie 500 Leute, bei der Voest strichen Sie sogar Ihrer Mutter die Betriebspension. Schliefen Sie da schlecht?

Raidl: Nein, aber es war furchtbar. Doch ich habe mich immer selbst vor die Belegschaft gestellt und erklärt, dass wir andernfalls alle Jobs verlieren. Und die Streichung der Voest-Pensionen basierte auf Freiwilligkeit, auch meine Mutter bekam eine Abschlagszahlung. Damals stürzte die Ideologie ein, dass es in der Verstaatlichten nicht um Gewinn-, sondern Beschäftigungsmaximierung geht und sie die Zyklen der kapitalistischen Wirtschaft ausgleichen kann. Aber Marktradikaler bin ich nicht. Ich vertrete die soziale Marktwirtschaft, die auch Hilfsbedürftige unterstützt. Es ist doch interessant: Die Verstaatlichte ist letztlich am Kapitalistischsten zusammengebrochen, das es gibt: an Spekulationen. Den Öl-Spekulationsgeschäften der Voest-Tochter Intertrading.

STANDARD: Sie haben aber auch etwas gegen die katholische Soziallehre. Mit dem Spruch, dass Sie keinen katholischen Stahlpreis kennen, haben Sie die ÖVP einst sehr verärgert.

Raidl: Der Stahlpreis wird aber halt vom Markt gemacht. Die katholische Soziallehre ist interessant, aber ein Gebäude mit hohlen Sätzen.

STANDARD: Sie und Gouverneur Nowotny wollen die OeNB reformieren. Die Pensionsverträge können Sie aber nicht knacken. Hatte Jörg Haider mit seinem Kampf gegen die "Notenbank-Privilegien" Recht?

Raidl: So würde ich es nicht sagen. Aber verglichen mit dem Standard in der Industrie ist die Pensionsregelung hier sehr günstig.

STANDARD: Sie sind sehr gut mit Ex-Kanzler Schüssel, waren 2000 für die FPÖ-Koalition. Weil er Sie damals, als Sie auf der Anklagebank saßen, nicht fallen ließ?

Raidl: Der Noricum-Prozess war meine schlimmste Zeit. Schüssel war einer der wenigen, die mich damals angerufen haben. Damals war die Justiz übrigens schnell und streng; mich hat ernüchtert, wie sehr sie, die sonst Zuhälter und Hendldiebe behandeln muss, es genossen hat, die halbe Republik vor Gericht aufmarschieren zu lassen und im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen.

STANDARD: Sie wurden 1991 zu acht Monaten bedingt wegen Verstoßes gegen das Kriegsmaterialiengesetz verurteilt, der OGH hat Sie dann 1993 als einziges Vorstandsmitglied freigesprochen. Ihre Lehre aus dieser Zeit?

Raidl: Ich denke juristischer. Was nicht rechtlich gedeckt ist, mache ich nicht. Kein Augenzwinkern, auch nicht bei Insider- und Wettbewerbssachen, wo in Österreich gern gezwinkert wird. The law is the law is the law.

STANDARD: Sie haben während des laufenden Insider-Verfahrens gegen OMV-Chef Ruttenstorfer, inzwischen in erster Instanz nicht rechtskräftig freigesprochen, einen offenen Brief für Ruttenstorfer unterschrieben. Wie passt das zusammen?

Raidl: Ich habe das getan und stehe dazu. Aber rückblickend kann man hinterfragen, ob das vernünftig war. Aber noch zurück zu Schüssel und Noricum: Mit meiner Befürwortung der Wende hatte das nichts zu tun. Schwarz-blau war wichtig, um die ÖVP aus ihrer ewigen Juniorrolle mit der SPÖ zu brechen.

STANDARD: 2003 sagten Sie dann, die FPÖ habe ihre historische Chance vertan, schuld sei Haiders Eitelkeit und Kleinkariertheit.

Raidl: Das sehe ich auch heute so.

STANDARD: Wie diskutieren Sie das mit Ihrem Bruder Gerald, einem FPÖ-Funktionär ?

Raidl: Über Politik reden wir nicht.

STANDARD: Ihre Großeltern waren Großdeutsche?

Raidl: Die mütterlicherseits. Mein Vater war ÖAABler, in der NS-Zeit eingesperrt. Nach dem Krieg war er bei Böhler schwarzer Betriebsrat. Mutig, im roten Kapfenberg.

STANDARD: Schlägt Ihr Herz heute eigentlich gar nicht mehr links?

Raidl: Doch, in manchen Fragen schon. Die ÖVP-Familienpolitik etwa halte ich für sehr verlogen: geprägt von katholischen Vorstellungen, die ignorieren, wie man heute lebt.

STANDARD: Sie sagen, Sie wollen nichts mehr werden, aber es laufen Gegenwetten. Sie fordern eine EU-Wirtschaftsunion mit EU-Finanzminister. Wäre das ein Job für Sie?

Raidl: Nein. Aber wir müssen mehr Kompetenzen an Brüssel geben, die Eurozone wird nur als Wirtschaftsunion Bestand haben. Währungsunionen überleben immer nur mit politischen Unionen gemeinsam, das ergeben historische Untersuchungen. Ein Buch darüber habe ich gerade in die OeNB-Bibliothek zurückgegeben ...

STANDARD: ... bevor die Freizeitbibliothek der Notenbanker Ihrem und Nowotnys Rotstift zum Opfer fällt?

Raidl: Nein, das gehört in die volkswirtschaftliche Bibliothek, und die bleibt ja.

STANDARD: Apropos Historie. Sie beklagen, dass die Österreicher seit jeher alles dem Staat überlassen. Warum ist das so?

Raidl: Wir haben keine revolutionäre Erfahrung ...

STANDARD: Sie waren 1968 ja auch nur eine Woche in Berlin.

Raidl: Aber ich habe 68 auch in Wien gegen den Einmarsch der Russen in der Tschechoslowakei demonstriert und in der russischen Botschaft eine Petition überreicht. Und: Ich habe den Mädchensturm aufs Pfeilheim organisiert. Habe an vorderster Front mit den Mädchen unser Studentenheim gestürmt, weil Damenbesuche verboten waren. Solche Besuche waren sehr kompliziert: Da musste der Portier zuerst aufs Zimmer rufen, man traf das Mädchen im Leseraum unten und musste dann ins Kaffeehaus oder sonst wohin gehen. Wir haben damals also Mädchen aus dem Heim ums Eck geholt, eine Puppe vom Leiter der Akademikerhilfe, die das Heim führte, verbrannt. Sehr radikal. Wir besetzten mit den Mädchen die Zimmer, der ORF kam, ich gab ein Interview, ab da waren Damenbesuche im Zimmer erlaubt. Ich hatte also durchaus meine revolutionäre Phase gegen die Obrigkeit.

STANDARD: Verändert eigentlich die Krise Ihren Glauben an den Markt?

Raidl: Ja. Wir brauchen in der Finanzwelt für Institutionen und Produkte mehr Regulative und Bestimmungen. In der Finanzwirtschaft kann man nicht nur den Markt wirken lassen. Und ich bin USA-kritischer geworden: Die dortige Billiggeld- und Kreditpolitik hat die Krise sehr befördert.

STANDARD: Apropos USA. In New York haben Sie Michael Jackson kennen gelernt?

Raidl: Wir hatten ein Meeting im Waldorf Astoria. Da wird die Lobby gesperrt, ich frage meinen Kollegen: "Wer ist die Narrische mit dem Mundschutz?" Sagt er: "Bist du verrückt? Das ist Michael Jackson." Frage ich: "Wer ist Michael Jackson?" Diese Welt ist mir fremd. Obwohl: Als Kind war ich in der Musikschule und durfte das Triangel spielen – aber ich habe den Einsatz verpasst.

STANDARD: Jackson hatte halt Angst vor Bakterien und der Welt. Wovor haben Sie Angst?

Raidl: Wovor ich Angst habe? Also, das ist jetzt schon sehr persönlich. Ich bin ängstlich in der Dunkelheit. Wahrscheinlich weil ich als Kleinkind in den Luftschutzkeller musste, im Wäschekörbchen haben sie mich reingetragen. Ich meide die Finsternis.

STANDARD: Vielleicht sind Sie deshalb nicht in die Politik gegangen?

Raidl: Ach, da geht es doch um Erleuchtung.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?

Raidl: Ich sage immer so: Jetzt bin ich schon auf dieser Welt, jetzt mache ich das Beste draus. (Langfassung des Interviews; DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19./20.2.2011)