SILVIA STOLLER ist Universitätsdozentin am Institut für Philosophie an der Universität Wien. Im Sommersemester 2011 lehrt sie im Rahmen der Aigner-Rollett-Gastprofessur für Genderforschung an der Universität Graz. 2009 war Silvia Stoller Gastprofessorin an der University of Oregon. "Existenz - Differenz - Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler" ist ihre Habilitationsschrift.

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Silvia Stoller: Existenz - Differenz - Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler. Wilhelm Fink Verlag 2010, ISBN: 978-37705-4907-8, EUR 54,-

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Im 20. Jahrhundert erwachte nicht nur die frauenpolitische Protestkultur, es war auch das (erste) Jahrhundert der feministischen Theorie. Ohne Rekurs auf die Denkerinnen Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Judith Butler lassen sich heute kaum Überlegungen über Geschlechterfragen anstellen. Dennoch wurden bisher diese Klassikerinnen selten in einem komplementären Sinn verwendet. "Die langjährige Beobachtung einander konkurrierender, widersprechender und bekämpfender feministischer Ansätze war stets von einem beunruhigenden Gefühl begleitet", schreibt die Philosophin Silvia Stoller, die im Ende 2010 erschienenen Buch "Existenz - Differenz - Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler" einen Versöhnungsversuch unternahm. Mit dieser Studie legt sie mittels der philosophischen Methode der Phänomenologie eine Neuinterpretation von jenen Begriffen vor, die den Ansätzen von Beauvoir, Irigaray und Butler zugrunde liegen.

Die Autorin sprach mit Beate Hausbichler unter anderem über das Potential der drei Theorien für die Kritik an gesamtgesellschaftlichen Prozessen und über den Streit, ob Frauen Männern gleich, different oder gar nur Konstruktionen sind.

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dieStandard.at: Sie haben sich mit den Klassikern der feministischen Theorie schlechthin beschäftigt und ordnen ihnen die Begriffe "Existenz" (Simone de Beauvoir), "Differenz" (Luce Irigaray) und "Konstruktion" (Judith Butler) zu - sind das noch immer die Grundbegriffe der feministischen Theorie? 

Silvia Stoller: Ja. Bei Simone de Beauvoir steht insofern der Begriff der Gleichheit im Vordergrund, als Frauen gleiche Rechte und Möglichkeiten wie Männer haben müssen. Gleichheit bedeutet in erster Linie also "gleich wie die Männer". Zweigeschlechtlichkeit bildete hierfür die Grundlage.

dieStandard.at: Also eine Anpassung an die Lebenswelt der Männer?

Stoller: Genau. Und dieser Punkt wurde von der nächsten Generation feministischer Theoretikerinnen kritisiert. Luce Irigaray hat darauf aufmerksam gemacht, dass Gleichheit oft bloße Angleichung bedeutet. Die strukturellen Probleme werden damit aber nicht gelöst. Auf das Problem der Angleichung aufmerksam zu machen und gleichzeitig die radikale Forderung nach Differenz aufzustellen - das war einer der wichtigsten Beiträge des Differenzfeminismus. Diese Forderung würde übrigens auch den gängigen politischen Debatten nicht schaden. Was müssen etwa MigrantInnen vor dem Hintergrund der Angleichung alles leisten? Warum beispielsweise sollen nicht "wir" andere Sprachen lernen? Differenz muss heute wieder viel radikaler gedacht werden.

Aber auch die später aufkommende Konstruktionstheorie hat etwas Wichtiges gesehen. Unter Geschlechterdifferenz verstand man jahrzehntelang die Differenz zwischen Mann und Frau. Die Konstruktionstheorie hat gezeigt, dass das eine Verengung ist, und sie hat auf die Pluralität von Identitäten aufmerksam gemacht und dass es nicht nur eine Differenz gibt, sondern vielfältige Differenzen. Sie hat uns gelehrt, dass bestimmte Überlegungen über die Geschlechterfrage kulturell erzeugt sind und dass diese Konstruktionen in einem ersten Schritt sichtbar gemacht werden müssen. In einem zweiten Schritt stellt sie Überlegungen darüber an, wie Theorie und Politik dieser Pluralität gerecht werden könnten.

dieStandard.at: Schon im Vorwort ihres Buch entsteht stark der Eindruck, dass sich feministische Theorien zu wenig oder gar nicht aufeinander beziehen oder aufeinander aufbauen.

Stoller: Im Zuge meiner Beschäftigung mit den drei Theoretikerinnen ist mir aufgefallen, dass die gegenseitige Bezugnahme sehr gering war. Ich denke, wenn jemand etwas Neues macht, fokussiert man sich eher auf die eigene Arbeit und stellt das Innovative davon in den Vordergrund, andere Arbeiten geraten da oft aus dem Fokus.

Die Anhängerinnen der Differenztheorie grenzten sich mit dem Argument ab, dass Gleichheit die Gefahr der Angleichung an die gegebenen patriarchalen Strukturen in sich birgt, daher richtete sich der Blick auf den Differenzbegriff. Irigaray hat die wichtige Beobachtung gemacht, dass von einer männlichen Norm ausgehend eine weibliche Identität gedacht wurde. Ihre Forderung war daher: Man muss erst eine richtige Differenz herstellen, eine, die sich nicht an der männlichen Norm orientiert. 

Judith Butlers Konstruktionstheorie im Anschluss daran trat dann einen unglaublichen Hype los, so dass Differenztheorien schnell ziemlich out waren.

dieStandard.at: Ein Hype, der doch noch immer anhält, oder?

Stoller: Ja, das ist eine interessante Frage. Ich glaube, Judith Butler wirkt noch immer ganz stark nach. Als Hype würde ich es aber nicht mehr bezeichnen, weil wir von ihren Theorien schlichtweg nicht mehr so überrascht werden. In den Neunzigern löste sie in den unterschiedlichsten Communities ja heftigste Debatten aus. Wenn man Konstruktionstheoretikerin war, durfte man kaum den Begriff Differenz von Irigaray ins Spiel bringen. "Differenz" rief gleich die Vorstellung von "Zweigeschlechtlichkeit", "Heterosexualität", "Konservativität usw. hervor. Ich habe diese negative Bewertung nie verstanden, denn die Pluralität, die die Konstruktionstheoretikerinnen einfordern, baut doch auf Differenz auf. Ohne Differenz gibt es keine Pluralität. 

dieStandard.at: Judith Butlers "Unbehagen der Geschlechter" ist schon 20 Jahre alt, also auch nicht mehr taufrisch. Stellt sich das nur für LaiInnen so dar, oder kommt seither wirklich nicht mehr viel Neues nach?

Stoller: Etwas Vergleichbares wie die Texte von Judith Butler von damals oder etwas, wo man sagt, damit müssen wir uns jetzt einfach beschäftigen, gibt es, glaube ich, derzeit nicht. Aber es gibt in Folge der Gender Studies etwa die Diversity Studies, eine jüngere Entwicklung sind auch die Critical White Studies. Beide arbeiten teilweise auch mit feministischer Theorie.

dieStandard.at: Würden Sie sagen, dass bei der noch stark wirkenden Konstruktionstheorie die Möglichkeit des politischen Handelns diffus ist? Von Beauvoir ließen sich ja noch relativ einfach klare Forderungen ableiten. 

Stoller: Ja, die Schwierigkeit bei Butler sehe ich darin, dass sie die Subjekte als autonome Subjekte in Frage gestellt hat. Wenn man allerdings der Psychoanalyse folgt, kann man nicht mehr so einfach von Autonomie sprechen, es gibt ja noch das Unbewusste. Es gibt ein Ich im Ich, und dieses Ich entzieht sich. Trotzdem steuert es in gewisser Weise unser Leben. Das muss man anerkennen. Insofern kann man auch mit Butler gut leben.

Aber mittlerweile wissen wir auch, dass Judith Butler nicht so weit gehen würde zu sagen, dass es keine politischen Subjekte "gibt". Gefragt ist also ein Denken des Politischen, das nicht ausschließlich auf der Vorstellung von Autonomie beruht.

dieStandard.at: Im Buch meinen Sie, dass Sie die drei wichtigsten feministischen Theorien des 20. Jahrhunderts nicht synthetisieren wollen. Den Eindruck, dass Sie sie aber sehr wohl versöhnen wollen, wird man nicht los. Warum ist Ihnen diese Versöhnung so wichtig? Die Feministische Theorie ist doch mittlerweile ein so großes Feld, dass man die Theorien auch ohne Überschneidungen so stehen lassen könnte.

Stoller: Versöhnung ist an sich nichts Schlechtes. Dennoch ging es mir um eine Gleichwertigkeit, weil ich nicht finde, dass diese drei Theorien passé sind. Jede dieser theoretischen Analysen und Forderungen ist noch aktuell. Zu Beauvoirs Zeiten gab es gravierende Ungleichheiten, daher war eine Gleichheitsforderung wichtig - und wir können noch immer nicht darauf verzichten.

Aber auch das Differenzdenken ist heute wichtig. In Zeiten, in denen Pluralität ein positiver Wert ist, müssen wir einen Begriff von Differenz haben. Das Problem aber ist, dass man mit dieser Differenz sehr sträflich umgeht. Mit der Andersheit menschlich umzugehen, ist noch immer vielerorts nicht möglich. Es gibt den Zwang, andere anzugleichen - etwa wenn man ein Kopftuch trägt, kein Deutsch spricht oder was auch immer. Insofern denken wir Differenz noch nicht radikal genug.

Und zu guter Letzt können wir auch auf die Gedanken rund um Konstruktion nicht verzichten. Butler hat uns gelehrt, hinter das Offensichtliche zu schauen. Sie zeigte uns, dass das allzu "Natürliche" nicht natürlich ist und etwa Fragen zu stellen sind wie: Wer ist jetzt wirklich eine Frau? Das war radikal.

dieStandard.at: Sie erachten also den Verbindungsversuch der drei großen feministischen Theorien auch für eine gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit?

Stoller: Ja. Existenz, Differenz und Konstruktion sind zentrale Begriffe des 20. Jahrhunderts, weit über die feministische Theorie hinaus. Und nicht zuletzt kann man die Leistungen der feministischen Theorie auf die verschiedensten Bereiche anwenden. Ich wünsche mir, dass Politik und Gesellschaft mehr davon Gebrauch machen, und zwar ernsthaft. (Die Fragen stellte Beate Hausbichler, dieStandard.at 17.2.2011)