Berthold Meyer, Leiter des Akademieprogramms für das Zentrum Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Marburg, sieht eine Chance für den Friedensprozess in Nahost.

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Nach der Revolution in Ägypten bangt Israel um einen seiner sicheren Partner in der Region. Der Nahost-Experte Berthold Meyer erklärt im derStandard.at-Interview mit Bernhard Oesterreicher, warum Israel seine Sicherheitspolitik überdenken sollte.

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derStandard.at: Wie wirkt sich Ägyptens Revolution auf Israels Sicherheitspolitik und auf die Friedensverhandlungen mit den Palästinensern aus?

Meyer: Man weiß noch nicht wie die Revolution weiter geht. Momentan haben wir noch ein Zwischenstadium, in dem das Militär das Sagen hat. Das Militär hat ausdrücklich erklärt, dass der Friedensvertrag mit Israel Bestand hat. Wir wissen natürlich nicht was passiert, wenn in Ägypten gewählt worden ist. Israel sollte in dieser Übergangszeit die Chance nutzen, den Friedensprozess mit den Palästinensern voranzubringen, um sich Luft zu verschaffen, falls die nächste Regierung in Ägypten Israel gegenüber weniger freundlich ist.

derStandard.at: Welche sicheren Partner bleiben Israel noch, wenn die zukünftige Regierung in Ägypten auf Distanz geht?

Meyer: Ägypten und Jordanien sind für Israel die einzigen Nachbarländer, mit denen Friedensverträge existieren. In Jordanien richtet sich die Oppositionsbewegung zurzeit gegen die Regierung und nicht gegen König Abdullah II. Der König ist ein Garant für den Friedensvertrag. Also Jordanien würde ich als feste Größe zu Gunsten Israels ansehen. Aber es gibt auch auf der arabischen Halbinsel, sowohl in Saudi-Arabien als auch den Vereinigten Arabischen Emiraten, Persönlichkeiten, die zumindest in einem Punkt mit Israel sympathisieren: Sie stimmen mit Israels vehementer Kritik an der iranischen Atompolitik überein. Das wird nicht so offen gesagt, ist aber aus den von Wikileaks veröffentlichten Dokumenten hervorgegangen. Es herrscht also manchmal mehr Übereinstimmung, als auf der Straße wahrgenommen wird.

derStandard.at: Ägyptens ehemaliger Präsident Mubarak half Israel die Hamas einzudämmen. Wird das nach demokratischen Neuwahlen mit einer Beteiligung der Muslimbrüder so bleiben?

Meyer: Es wird sich zeigen, wie stark die Muslimbrüder sind, wenn in einem halben Jahr gewählt wird. Heute wird vermutet, dass sie auf Grund ihrer guten Organisation relativ stark sind. Es könnte aber durchaus sein, dass sich aus der Oppositionsbewegung, die sich in den letzten Wochen am Tahrir-Platz gebildet hat, mehrere politische Parteien hervorgehen. Vielleicht werden diese wesentlich stärker sein, als die der Muslimbrüder. Es ist also schwierig zu sagen, wie es in einem halben Jahr aussieht. Die andere Frage ist, wie die Muslimbrüder in Ägypten zur Hamas stehen. Die Hamas wurde von den palästinensischen Muslimbrüdern gegründet. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass die einen den anderen dazwischenreden.

derStandard.at: Ist durch die derzeitige Situation in Nahost ein Friedensvertrag zwischen Israel und den Palästinensern wahrscheinlicher geworden?

Meyer: Dazu müsste Israel erst seine Siedlungspolitik verändern.

derStandard.at: Wäre jetzt nicht auch die richtige Zeit, um die Politik auf den Golan-Höhen zu überdenken und mit Syrien Frieden zu schließen?

Meyer: Wenn Israel vernünftig ist, ja. Es hat vor einigen Jahren Verhandlungen zwischen Israel und Syrien gegeben, die schon sehr weit gediehen waren. Im Zusammenhang mit dem Libanonkrieg 2006 wurden sie wieder abgebrochen. Ich denke, dass eine gemeinsame Basis bereits vorhanden ist. Strategisch müsste Israel versuchen, sich auch an der Nordflanke eine Situation zu schaffen, damit es ruhig schlafen kann.

derStandard.at: Sie meinen auch deshalb, weil sich jetzt sicherheitspolitisch an der Südgrenze einiges verändern könnte?

Meyer: Ja, es wäre natürlich komfortabler für die Israelis, wenn sie im Norden Ruhe hätten. Dann könnten sie, sofern es notwendig wird, aus Abschreckungsgründen Kräfte in den Süden verlegen, die derzeit im Norden gebunden sind.

derStandard: Wird Israel seinen Militärhaushalt aufstocken?

Meyer: Ich habe nicht den Eindruck, als gäbe es einen Rückgang an Verteidigungsausgaben. Sie versuchen ohnehin dauerhaft so gut wie möglich ausgerüstet zu sein. Jene Kräfte, die in Israel für verstärkte Sicherheitsmaßnahmen plädieren, bekommen jetzt durch die unruhige Lage um Israel natürlich Argumente geliefert, die es ihnen leichter machen, ihre Forderungen durchzusetzen.

derStandard.at: Der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi hat palästinensische Flüchtlinge aufgerufen, sich an israelischen Grenzen zu versammeln, bis ihre Forderungen erfüllt würden. Werden die Palästinenser seinem Aufruf folgen?

Meyer: Für mich stellt sich die Frage, wen er überhaupt damit angesprochen hat. Die Palästinenser im Gaza-Streifen machen das vielleicht. Wobei die Hamas wahrscheinlich in erster Linie daran interessiert ist, dass ihre eigenen Forderungen erfüllt werden. Palästinenser die etwa in Jordanien oder Ägypten leben, müssten erst zur Grenze Israels reisen. Ich halte das also wieder für große Worte, die nicht viel mit der Realität zu tun haben.

derStandard.at: Warum hat die palästinensische Regierung gerade jetzt Neuwahlen ausgerufen und wie können sie sich auf die Friedensverhandlungen auswirken?

Meyer: Die Wahlen waren vor über einem Jahr auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Auch jetzt hat der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde,  Mahmud Abbas, keinen genauen Termin angekündigt. Bei Neuwahlen stellt sich überdies die Frage, wo die abgehalten werden können. Die palästinensische Regierung hat ja nur Einfluss auf das Westjordanland. Wenn die Hamas nicht mitspielt, können sie z.B. keine Neuwahlen im Gaza-Streifen durchführen.

derStandard.at: Die Hamas-Organisation will die Wahlen boykottieren. Die Hamas hat die Proteste in Ägypten befürwortet, will nun aber der Bevölkerung vorschreiben, nicht wählen zu gehen. Wie werden die Menschen im Gaza-Streifen reagieren?

Meyer: Wenn keine Wahllokale aufsperren, können die Palästinenser im Gaza-Streifen auch nicht wählen gehen.

derStandard.at: Demonstrieren können sie...

Meyer: Das können sie natürlich. Wenn die Hamas insgesamt zu einem Wahlboykott aufruft, können ihre Leute für die Wahlen auch nicht kandidieren. Im Westjordanland haben sie aber keine so schwache Position. In manchen Gemeinden haben sie sogar die Mehrheit. Sie wären also dumm, würden sie nicht wenigstens an den ebenfalls angekündigten Kommunalwahlen teilnehmen. Insgesamt sind sie die stärkste Oppositionskraft. Was die angekündigten Wahlen für die stagnierenden Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern bedeuten, ist schwer einzuschätzen. Israel wäre allerdings gut beraten, zu einem Vertrag zu kommen, solange Abbas noch das Sagen hat.