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Ein Graffito zeigt die Wichtigkeit des Netzwerks beim Volksaufstand: zwei Demonstranten vor einem geschlossenen Geschäft in Kairo.

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Selbst die Ästhetik des Protests auf der Straße erweist dem sozialen Netzwerk Reverenz: Transparent im Facebook-Design.

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Die unübersehbare Spur der ägyptischen Revolte gegen das Regime von Hosni Mubarak lässt sich vom Tahrir-Platz in Kairo direkt zu einem unscheinbaren Internetcafé im Stadtteil Kleopatra in der Hafenstadt Alexandria zurückverfolgen. An einem Sonntagabend vor acht Monaten, am 6. Juni 2010, saß dort der 28-jährige Khaled Said an einem Computer, als zwei Polizisten in Zivil in das Lokal stürmten. Sie beschimpften den Mann und verlangten von ihm Geld, beschrieb es später der Anwalt Muhammed Abdel Aziz der Menschenrechtsorganisation El Nadim. Als Said erklärte, kein Geld zu haben, begannen die Polizisten auf ihn einzuprügeln.

Tod von Khaled Said

Sein Kopf schlug auf einer marmornen Tischplatte auf und begann zu bluten. Dann schleppten ihn die Polizisten auf die Straße und schlugen unter seinen Schreien weiter brutal auf ihn ein. Passanten versuchten vergeblich, sie davon abzuhalten; ein Polizeiauto fuhr vor, das den leblosen Khaled Said abtransportierte. Wenig später kam der Wagen zurück und kippte den jungen Mann mit eingedrücktem Brustkorb und eingeschlagenem Schädel tot auf die Straße vor dem Internetcafé.

In den Tagen danach zirkulierten zwei Fotos durch das Internet, die heute noch zu finden sind: auf einem ein sympathischer, gut aussehender junger Mann, auf dem anderen ein von Schlägen völlig entstelltes Gesicht, das nur noch seine Familie und enge Freunde als das von Khaled erkannten.

Zwei staatliche Autopsien erklärten, dass Said nicht an den Schlägen gestorben sei, sondern an einem Päckchen Rauschgift, das er bei der Verhaftung versucht habe zu schlucken. Seine Familie berichtete hingegen anderes: Erst wenige Tage zuvor hatte Khaled, der in den USA Programmieren studiert hatte, ein mit dem Handy gemachtes Video gepostet. Darauf sieht man Polizisten, wie sie Säckchen mit Rauschgift nach einer Razzia untereinander aufteilen.

Es folgten Proteste gegen die Polizeibrutalität und Demonstrationen auf den Straßen von Alexandria und Kairo, an denen sich damals bereits der ägyptische Friedensnobelpreisträger und frühere Chef der UN-Atombehörde, Mohamed ElBaradei, beteiligte. Unter dem Druck der Straße wurden die Polizisten in geringem Ausmaß bestraft, die Demos wurden vom Regime zerstreut.

"Wir sind alle Khaled Said"

Aber der Zündfunke glomm gut sichtbar weiter: Auf dem virtuellen Marktplatz von Facebook fand die Seite "Wir sind alle Khaled Said" rasch zigtausende Unterstützer. Unbekannte Administratoren hatten sie auf Ägyptisch und Englisch eingerichtet, und Versuche in den nächsten Monaten, diese und ähnliche Seiten abzuschalten, gelangen nur vorübergehend.

Der 25. Jänner 2011, der "Nationalfeiertag der Polizei" in Ägypten, wurde schließlich zum Kristallisationspunkt der monatelang im virtuellen Untergrund artikulierten Proteste. Bestärkt durch den Sturz von Ben Ali in Tunesien - dem gleichfalls eine monatelange Mobilisierung über Facebook und Twitter vorausgegangen war - trommelte "Wir sind alle Khaled Said" mit mehreren anderen Organisationen zum Marsch auf den Tahrir-Platz. Zehntausende fanden sich zum Protest in der ägyptischen Hauptstadt sowie in Alexandria ein, darunter auch der damals nur seinem Freundeskreis bekannte 30-jährige Google-Manager Wael Ghonim.

Ghonim war eine der zentralen Figuren einer kleinen Gruppe politischer Web-Aktivisten, die mittels sozialer Medien halfen, aus dem Zündfunken einen Flächenbrand zu machen. In Dubai stationiert, reiste er ohne Wissen Googles privat laufend nach Ägypten. Dort half er zunächst ElBaradei, seine Internetpräsenz aufzubauen. Die Aktivitäten Ghonims waren auch Mubaraks Staatspolizei nicht entgangen, die sich seit langem ebenso aktiv wie Dissidenten auf Facebook, Blogs und Twitter betätigte - eine Achillesferse von Online-Medien bei der Organisation politischen Widerstands: Es ist schwer, persönliche Spuren und Identität auf Dauer zu verwischen.

"Vor einem Jahr habe ich gesagt, dass Internet die politische Szene in Ägypten verändern wird, und einige Freunde haben sich darüber lustig gemacht ;)" war der letzte Eintrag Ghonims auf seiner Facebook-Seite, zwei Tage nach dem Beginn der Demonstrationen. Tags darauf, am "Freitag des Zorns", verschwand er.

Domino-Theorie

Ägypten und Tunesien sind die bisher letzten Dominosteine einer Reihe, die vor zwei Jahren "Twitter-Revolution" getauft wurde. 2009 organisierten sich in Moldau Demonstranten über Twitter, das sich selbst gern als "Telegrafensystem des 21. Jahrhunderts" definiert.

Angespornt von den Ereignissen in Tunis und Kairo, formiert sich die politische Opposition derzeit auch in den arabischen Nachbarländern Marokko und Jordanien online. Und was immer es für die weitere Entwicklung bedeuten mag: Vor wenigen Tagen hob das syrische Regime die seit 2007 bestehende Blockade von Facebook und Youtube auf, auch wenn weiterhin westliche Medien, zahlreiche Blogs und die arabische Wikipedia im Land nicht zugänglich sind.

Aber zwischen Chisinau und Tunis und Kairo lag ein herber Rückschlag für die Anhänger der These vom revolutionären Potenzial sozialer Online-Medien: die gescheiterte "grüne Revolution" im Iran. Die Entwicklung nach den getürkten iranischen Wahlen im Juni 2009 war anfangs dieselbe wie zuvor in Moldau, wie später in Tunesien und Ägypten: Menschen formierten sich online, demonstrierten auf den Straßen. Besonders stark bleiben drei Videos vom Tod der 26-jährigen Neda Agha-Soltan in Erinnerung, die von einem Milizionär gezielt erschossen wurde. Die Aufnahmen der sterbenden Neda verbreiteten sich blitzartig im Netz, ehe sie zuerst von CNN, dann zahllosen Sendern in aller Welt gezeigt wurden. #neda wurde zu einem der meistverwendeten Hashtags auf Twitter im Zusammenhang mit der grünen Revolution - so werden die mit dem #-Zeichen versehenen Stichworte genannt, um Themen zu kennzeichnen. Die "New York Times" brachte die Revolte auf den Nenner: "Gauner, die mit Kugeln schießen" gegen "Demonstranten, die Tweets abfeuern".

Erst ein Jahr später kam Kritik an der These auf, dass soziale Medien die grüne Bewegung hervorgebracht hätten. Der Twitter-Effekt sei bloß Wunschdenken westlicher Medien gewesen, die von der Berichterstattung abgeschnitten waren und ihre News aus dem Internet beziehen mussten. Die meisten Tweets seien nicht aus dem Iran, sondern von Iranern im Exil gekommen, schrieb die US-iranische Journalistin Golnaz Esfandiari im Magazin "Foreign Policy". Die tatsächliche Organisation hätte jedoch anders stattgefunden - durch Mundpropaganda, dem wohl ältesten Medium der Menschheit.

Die anfänglichen Begeisterung über den Beitrag des Internets zur Demokratisierung und Befreiung unterdrückter Menschen in aller Welt schlug nach dem Iran bei manchen in ihr völliges Gegenteil um. Mit dem Karikaturisten F. W. Bernstein gesprochen: Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche. Wie der aus Weißrussland stammende, heute an der Uni Stanford tätige Evgeny Morozov: Ihm wird die Erfindung des Begriffs "Twitter-Revolution" beim Volksaufstand in Moldau zugeschrieben. Damals prophezeite er, man werde sich der Ereignisse nicht nur ihrer selbst wegen, sondern wegen der Technologie erinnern, die sie vorangetrieben haben.

Die Kehrtwendung veröffentlichte Morozov Anfang des heurigen Jahres in seinem Buch "The Net Delusion" - wohlmeinend als Täuschung zu übersetzen, im Sinne des Autors eher als Wahnidee gemeint. Die Realität würde die Wunschvorstellungen von "Cyber-Utopisten" - wie er einer war - in ihr Gegenteil verkehren. Im Iran habe sich das Regime der Online-Information bedient, um die Proteste brutal niederzuschlagen. In Russland organisieren Neofaschisten ihre gewalttätigen Hetzkampagnen über das Netz - auch in Österreich und Deutschland sind Neonazis von jeher besonders fleißige Online-Netzwerker. Zwar intervenierte während der Iran-Proteste sogar das US-Außenamt bei Twitter, um eine geplante Serviceabschaltung aufzuschieben. Aber später erhob der Sender Al-Jazeera, dass es nur 60 aktive Twitter-Konten im Iran gegeben habe.

Wie Westfernsehen für Ossis

Aber schlimmer noch, als nur nutzlos zu sein, sei, dass das Internet eine einlullende Wirkung erziele, kritisiert Morozov. Dafür bringt er einen gewagten Vergleich: Anstatt Leute aufzuwiegeln, habe Westfernsehen in der DDR das tatsächliche Interesse an Politik verringert. Umfragen sollen gezeigt haben, dass Ostdeutsche mit Westempfang weniger unzufrieden mit dem DDR-Regime waren, oder in den Worten eines ostdeutschen Dissidenten: "Das ganze Land konnte mit dem Hauptabendprogramm um acht Uhr abends wie ein Mann das Land verlassen und in den Westen übersiedeln." Ähnlich sieht Morozov durch den Zugang zu raubkopierten Filmen, "dummen Videoclips" und Online-Porno den potenziellen Widerstandswillen gegen autoritäre Regime ausgehöhlt.

Die Schwäche sozialer Medien für politische Bewegungen, argumentierte auch Malcolm Gladwell vergangenen Herbst im New Yorker, ist eben genau das: "schwache Bindungen". Gemeint ist das soziologische Konzept, das zwischen "starken" - Familie, Freunde, unmittelbare Arbeitskollegen etc. - und "schwachen" Bindungen - Bekannte, berufliche Kontakte, die meisten unserer "FreundInnen" auf Facebook - unterscheidet. Für Revolutionen, so Gladwell, kommt es auf die starken Bindungen an, wie bei der US-Bürgerrechtsbewegung, die von kleinen, verschworene Gemeinschaften, die auch Gefahr für Leib und Leben nicht scheuten, getragen wurde und die eine klare Strategie verfolgten.

Und dann kam Tunesien

Aber kaum dass die konträre Welle zum demokratisierenden Effekt sozialer Medien über die Onlineforen hereingebrochen war, passierte schon wieder etwas: Das Volk erhob sich in Tunis und stürzte seinen autoritären Herrscher Ben Ali. Der Rückblick auf die Entwicklung des Aufstands zeigt, dass vor allem Facebook eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung der Bevölkerung spielte.

"Es gibt viel mehr Facebook- als Twitter-User", beschreibt Jillian York vom Berkman Center for the Internet and Society. "Facebook ermöglicht starke Bindungen auf eine Art, wie es Twitter nicht schafft. Es geht dabei nicht nur um Tratsch", widerspricht sie Gladwells Auffassung, dass Facebook nicht (auch) starke Bindungen hervorbringen und erhalten könne.

Schon früh gab es Hinweise darauf, dass Facebook in Tunesien eine Rolle spielen sollte: Im Juli 2010, ein halbes Jahr, bevor Ben Ali das Land fluchtartig verlassen musste, kursierte eine Photoshop-Montage mit Mark Zuckerberg, der ein Plakat mit einem Slogan für Meinungsfreiheit hielt - einem Slogan, der später bei Demonstrationen auf Transparenten aufschien.

"Facebook" findet sich als Graffito und auf Plakaten auch auf zahlreichen Fotos der Ereignisse in Tunis und Kairo, so wie auf dem Bild links. Noch ein Detail ist auf den allermeisten dieser Bilder zu entdecken: Handys, mit denen Menschen Bilder und Videos machen. Nachdem Youtube und andere Video-Sites vom tunesischen Regime blockiert wurden, landeten die meisten Bilder und Videos direkt vom Handy auf Facebook-Seiten.

Diese Videos zeigten die brutale Realität, wie die tunesischen Sicherheitskräfte versuchten, den Aufstand niederzuschlagen: Menschen mit schweren Verletzungen und zertrümmerten Schädeln, und das Entsetzen, mit dem die Umstehenden darauf reagieren - und es gleichzeitig dokumentieren, um es im Schneeballeffekt des Internets weiterzusagen, bis es schließlich alle hören und sehen können. Anfang Jänner berichtete Facebook, dass sich innerhalb weniger Wochen in Tunesien einige hunderttausend neue Mitglieder registrierten - hochgerechnet auf die Bevölkerung der USA ein Zulauf von zehn Millionen.

Wie heftig sich der Kampf auch online abspielte zeigte der Versuch der Behörden, Facebook zu sabotieren. Zu Weihnachten 2010 bemerkte der Security-Officer des sozialen Netzwerks erstmals, dass es zu Unregelmäßigkeiten kam: User beschwerten sich darüber, dass ihre Konten gelöscht waren. Es stellte sich heraus, dass Hacker des Regimes in einer gigantischen Operation mithilfe der Internetprovider versuchten, die Passwörter aller Facebook-User in Tunesien mittels "Keyboard-Loggers" - kleiner Spionageprogramme am PC - zu stehlen.

Facebook entschloss sich, technisch und nicht politisch auf diesen Hack zu reagieren. Zunächst wurden alle tunesischen User auf sichere Datenverbindungen umgeleitet ("https", wie es auch für Onlinebanking verwendet wird), um das Ausspähen der Kennwörter zu vereiteln. Wer nach einer Sitzung wiederkam, musste zuerst durch Identifikation der Bilder von Freunden zeigen, dass er auch wirklich Inhaber des Kontos war.

In der Freiheit von Demokratien und ihrem Überangebot ist es schwer vorstellbar, dass in großer Zahl akzeptierte "Freundschaftsanfragen" auch große Bedeutung haben könnten. Aber wenn es möglich ist, dass sich Menschen zunächst online kennenlernen und aus einem Flirt eine Begegnung, vielleicht sogar eine Partnerschaft wird: Warum sollen dann Begegnungen auf Facebook nicht auch in politischer Aktion münden können? Tausende Studenten, die sich Anfang 2010 über die Facebook-Seite "Die Uni brennt" organisierten, können den Effekt auch hierzulande bestätigen.

Wael Ghonim kehrt zurück

Zwölf Tage nach seinem Verschwinden tauchte Wael Ghonim wieder auf: Plötzlich hatte der Widerstand, der sich acht Monate davor online zu formen begonnen hatte, für die Menge ein Gesicht, einen Helden, von der Regierung selbst unfreiwillig beschert. Auch wenn er unter Tränen in seinem ersten TV-Interview auf Dream TV erklärte: "Die wirklichen Helden sind die Menschen, die jetzt auf dem Boden sitzen, ich habe die vergangenen zwölf Tage nur geschlafen."

Vielleicht hatte Ghonim bis zu dem Zeitpunkt, ehe er entführt und mit verbundenen Augen in einem Verlies festgehalten wurde, noch die Hoffnung, dass sich Freiheit und Demokratie mit dem Keyboard erringen lassen würden. "Freiheit ist ein Segen, für den es sich lohnt zu kämpfen", war jetzt der erste Tweet von @ghonim, als er Anfang dieser Woche freikam.

Nein, Revolutionen werden nicht auf Facebook gemacht. Es bedarf Unterdrückung, unerträglicher Lebensumstände, Korruption der Herrscher, um erst die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Und Menschen aus Fleisch und Blut, die - vielleicht auch wider Willen - ihr Leben für eine Änderung einsetzen. Kommt all das zusammen: dann werden soziale Medien rasch zum Brandverstärker.

Am 11. Februar trat Husni Mubarak als Präsident ab.  (Helmut Spudich/DER STANDARD Album, 12. Februar 2011)

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