Obst, Gemüse, Brot, Milchprodukte - in der Stadt landet naturgemäß mehr im Mist als auf dem Land.

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Wien - Die Lebensmittelpreise füllen derzeit wieder ausgiebig die Wirtschaftsseiten der Zeitungen. Kein Wunder: Laut FAO (Anm. UN-Organisation für Ernährung) war die zwischen Dezember 2010 und Jänner 2011 festgehaltene Teuerung bei Lebensmitteln die höchste jemals festgestellte. Der FAO-Nahrungsmittelindex stieg auf nie gesehene 231 Punkte - der Höchstwert seit dem Start Anfang der 1990er-Jahre. So weit, so bekannt  - und so folgerichtig die Reaktionen: Jammern und Klagen bei den Konsumenten und Warnungen bei Konsumentenorganisationen.

Vom Kühlschrank in den Mistkübel

Umso erstaunlicher, dass in den USA und in Europa gleichzeitig bis zu 50 Prozent der Nahrungsmittel jedes Jahr im Mist landen. Jedes zweite Salathäuptel, jeder zweite Erdapfel, jedes fünfte Brot erreichen nicht einmal, Kühlschränke, Obstschüsseln und Brotdosen der Konsumenten. In Österreich sind es nach Erhebungen des Instituts für Abfallwirtschaft auf der Wiener Universität für Bodenkultur (Boku) bis zu beachtlichen 166.000 Tonnen an angebrochenen und original verpackten Lebensmitteln, die alleine die Haushalte jährlich in den Restmüll befördern, wie Boku-Expertin Felicitas Schneider im Gespräch mit derStandard.at sagt. Eine 100.000-Einwohner-Stadt könnte davon gut und gerne leben. Die Speisereste oder der Biomüll sind da noch gar nicht mitgezählt, keine Suppe oder saure Milch, die den Weg in den Kanal finden, und keine übrig gelassene Nudelportion eingerechnet. "Obst, Gemüse, Brot, Milchprodukte, Fleisch und Fertiggerichte - es sind immer die gleichen Produkte ganz oben auf der Liste", sagt Schneider. Was den Handel, die Landwirtschaft oder die Produktion betrifft, so gibt es keine Zahlen, die flächendeckend erfassen, was dort weggeworfen wird. Geschätzte 45 Kilo sollen täglich in Lebensmittelfilialen anfallen.

Seit rund zehn Jahren beschäftigt man sich an der Boku schon mit dem Thema Lebensmittel im Mist. Am Anfang noch relativ unbeachtet von der Öffentlichkeit und ohne Unterstützung durch die Politik. Mittlerweile scheint es sich aber bis in die höheren Etagen durchgesprochen zu haben, dass es sich bei den aus diversen Gründen aussortierten Nahrungsmitteln nicht gerade um eine vernachlässigbare Größe handelt.

Ernährung aus dem Abfall

So üppig ist das Angebot aus dem Mist, dass es mit den "Freeganern" mittlerweile eine gesamte Bewegung (tierproduktfrei) ernährt. Auch der britische Umweltaktivist und Journalist Tristram Stuart hat lange nur das gegessen, was Supermärkte, Bioläden und Restaurants als Abfall entsorgen. Er fand, wie er in seinem gerade in deutscher Übersetzung erschienenen Buch "Wie wir unsere Lebensmittel verschwenden" schreibt, in den Müllcontainern ein Schlaraffenland feinster Speisen, und kam so überhaupt erst auf die Idee zu diesem Buch. Stuart hat sich weltweit umgesehen, Lagerhallen und Produktionsstätten besucht, mit Bauern, Produzenten und Konsumenten gesprochen. Was Stuart auftischt, entspricht in etwa auch der Speisenfolge, die der Film "Frisch auf den Müll" von Valentin Thurn (die internationale Fassung lief unter dem Titel "Taste the Waste") kredenzt: Maßlose Verschwendung entlang der gesamten Kette. Verbraucher, Hersteller, Händler, Verkäufer und Politiker mangelt es an dem notwendigen Bewusstsein.

Keine leeren Regale

Supermärkte schmeißen ganze Paletten frischer Ware weg, weil eine einzige Packung beschädigt ist. Um den Konsumenten den Anblick leerer Regale zu ersparen, wird weit mehr bestellt, als verkauft. Was übrig bleibt, landet im Mist. Die Bauern sortieren tadelloses Gemüse und Obst aus, weil es den ästhetischen Ansprüchen der Konsumenten nicht genügt. Die EU-Normung von Obst und Gemüse führte laut Stuart zum Beispiel dazu, dass ein britischer Großhändler 5000 Kiwis wegwerfen musste, weil sie vier Gramm leichter waren als vorgeschrieben. Sie waren einen Millimeter zu dünn. Mit verlässlichen Zahlen sah es auch nach Stuarts Aussage eher finster aus. Gesprochen wird naturgemäß nicht gern über die Tatsache, denn in der Öffentlichkeit will niemand gerne als Verschwender dastehen.

Immer verfügbar

Boku-Expertin Schneider kann ebenfalls auf keine Zahlenbelege zurückgreifen, aber vom Gefühl her gehe der Trend eher zu mehr Wegwerfen, sagt sie. Die Gründe, die man in Untersuchungen für die Verschwendung herausgefunden hat, sind nachvollziehbar und vielfältig. Die Distanz zwischen der Herstellung der Lebensmittel und den Haushalten ist größer geworden. Für den Konsumenten ist zu jeder Jahreszeit jedes Lebensmittel verfügbar und der Preis ist laut Schneider auch nicht abschreckend: "Der Anteil der Lebensmittel an den jährlichen Haushaltsausgaben liegt derzeit bei 13 Prozent. Man regt sich zwar auf, aber ob jetzt 13 oder 13,5 Prozent der jährlichen Haushaltsausgaben auf Lebensmittel entfallen, ist eigentlich unerheblich. Auf die Frage, warum etwas weggeschmissen wird, bekommen wir oft die Antwort: 'Wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) erreicht ist, dann schmeiße ich das Joghurt weg, denn wenn ich es wieder haben will, kaufe ich es halt wieder nach. Ist eh so billig'." Außerdem gehe in den Haushalten ganz einfach oft der Überblick verloren, weil für die Haushaltsführung mehrere Personen zuständig sind. Oft würde es aber den Konsumenten ganz einfach auch an Kompetenz mangeln, fand man an der Boku heraus. "Die Leute wissen nicht mehr, wie man die Lebensmittel lagert und die Qualität feststellen kann. Viele verlassen sich auf das MHD, das ja auch umgangsprachlich Ablaufdatum heißt. Damit wird assoziert, dass nach seinem Erreichen ein Lebensmittel ungenießbar wird. Dabei muss man einfach riechen und schmecken, nach Erreichen des MHD halt noch genauer."

Mehr Flexibilität

Schneider hat neben ihrem Studium selbst bis 2001 im Lebensmittelhandel gearbeitet. Seither wurden von Unternehmen manche Maßnahmen gesetzt, die der Verschwendung Schranken setzen sollen. So würden mittlerweile im Handel fast überall die Produkte, die knapp am Mindesthaltbarkeitsdatum sind, verbilligt abgegeben. Es gibt Initiativen wie Brotbörsen, wo ab einer gewissen Uhrzeit die Produkte ebenfalls günstiger angeboten werden. Es gäbe aber auch Unternehmen, die dazu stehen, dass um 18 Uhr nicht mehr die gesamte Produktpalette verfügbar sei, und es gäbe Bestrebungen, den Kunden Alternativen anzubieten, weiß Schneider: "Da kann der Kunde zum Beispiel, wenn er eine halbe Stunde vorher anruft, 20 Semmeln bestellen, die dann in der Filiale frisch aufgebacken werden."

Steigende Preise beeindrucken nicht

Gefordert sei jeder Akteur entlang der Wertschöpfungskette, mahnt Schneider: "Wenn der Handel mit günstigen Sonderangeboten wie 'Kauf drei, zahl zwei' wirbt, werden die Haushalte verführt, mehr zu kaufen, als sie eigentlich brauchen." Was ihr vorschwebt, sind Maßnahmenpakete und Initiativen gemeinsam mit dem Handel, wie sie andernorts bereits ausprobiert werden. In Großbritannien habe sich etwa eine große Handelskette freiwillig bereit erklärt, im Aktionszeitraum auch ein einzelnes Produkt günstiger herzugeben. Die steigenden Lebensmittelpreise würden eher nicht unmittelbar erzieherisch wirken, ist Schneider überzeugt: "Wir finden durchaus auch teure Produkte im Abfall - vom Räucherlachs über das Glaserl Kaviar bis zum Biofleisch mit Ab-Hof-Verkaufs-Etikett." (Regina Bruckner, derStandard.at, 14.2.2011)