Blauensteiner: "Unser künstlerischer Leiter sagt immer, es gibt keine unmusikalischen Kinder."

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Die Sängerknaben wohnen, lernen und singen seit 1948 im Augartenpalais im 2. Bezirk in Wien. Auf dem Areal befinden sich auch Sportplätze.

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Bei den Sängerknaben werden pro Jahr etwa 25 Burschen aufgenommen. Sie touren durch die ganze Welt.

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Gerne besuchen sie in den Welt-Metropolen die "Hard Rock"-Cafés. T-Shirts werden als Souveniers mitgebracht.

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Der Haydn-Chor, einer der insgesamt vier Sängerknaben-Chöre, ist derzeit in den USA unterwegs.

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Ein Klassenzimmer der Sängerknaben. Es gibt "White-Boards", auf denen nicht mit Kreide geschrieben wird, sondern mit Stiften. Die Kreide schadet den Stimmbändern, sagt Blauensteiner.

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"Nichts ist schrecklicher als ein unglückliches Kind vor sich zu haben. Wir versuchen ein unglückliches Kind glücklich zu machen. Aber wenn es notwendig ist, informieren wir die Eltern."

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Im Festsaal versammeln sich die Sängerknaben zu besonderen Anlässen. Zum Beispiel werden hier die Weihnachtsgeschenke überreicht.

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Das Schwimmbad ist eines der Highlights im Schulgebäude. Der Sportunterricht findet auch hier statt.

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Im Speisesaal bekommen die jungen Sänger zu Essen.

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"Ich bin der Meinung, dass die Kinder heute ungleich schwierigere Voraussetzungen haben als zu meiner Zeit", sagt Markus Blauensteiner, Direktor des Realgymnasiums der Wiener Sängerknaben. Mit derStandard.at sprach er über das Internatsleben, über Sozialpädagogen, die als "Vater- und Mutterersatz" dienen, und warum er die Sängerknaben als Eliteeinrichtung versteht. Die Fragen stellten Katrin Burgstaller und Rosa Winkler-Hermaden.

derStandard.at: Wie wählen Sie die zukünftigen Sängerknaben aus?

Blauensteiner: Für die Sängerknaben werden pro Jahr etwa 25 Burschen aufgenommen. Unser Prinzip ist: Wenn sich jemand für die Sängerknaben interessiert, sollte er schon in die Volksschule gehen. Ab der dritten, vierten Klasse wäre es gut, wenn die Knaben schon da sind. Zirka ein Viertel kommt als Quereinsteiger zu uns. Wir sagen jedem, der Interesse hat zu uns zu kommen, er muss nicht singen können, er lernt es ja bei uns. Es wird getestet, ob sich die Stimme aus physiologischer Sicht eignet und ob er ein Rhythmusgefühl hat. Unser künstlerischer Leiter sagt immer, es gibt keine unmusikalischen Kinder. Wichtig ist, dass der Knabe das auch will.

derStandard.at: Warum wollen junge Burschen Sängerknaben werden?

Blauensteiner: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt jene Gruppe, wo die Eltern wollen, dass die Kinder eine qualitaitv hochwertige künstlerische Ausbildung erhalten. Viele kommen aus Familien, in denen Musik Gott sei Dank noch eine Rolle spielt. Sehr oft ist die Motivation die, dass die Eltern bemerken, dass ihre Kinder sich für Musik sehr begeistern.

derStandard.at: Und wie sehr wollen das die Kinder selbst?

Blauensteiner: Ich habe von einem einzigen Knaben gehört, der gegen den Willen seiner Eltern hier angerufen und gesagt hat, er möchte gerne vorsingen. Das war der Sohn eines Arztes, der die Sängerknaben im Fernsehen gesehen hat. Da war der Impetus ganz alleine beim Kind. Bei uns hat jeder eine Chance. Das Kind muss wollen, den Rest machen wir schon.

derStandard.at: Macht es Sinn, ein Kind gegen seinen Willen herzubringen?

Blauensteiner: Nein. Wir merken es sofort, wenn ein Bub nicht hier sein will. Oft ergeben sich Probleme aufgrund der Tatsache, dass das Kind eine Woche von seinen Eltern weg ist. Er zeigt durch viele Aktionen, auch unbewusst, dass er sich nicht wohl fühlt. In so einem Fall reden wir mit Eltern und sagen, dass es keinen Sinn macht. Es ist das schlimmste, einem Kind etwas zu oktroyieren, das es nicht will.

derStandard.at: Der Schritt ins Internat in der vierten Klasse Volksschule ist sicher für viele Kinder ein großer. Viele vermissen sicher auch ihre Eltern. Wie gehen Sie damit um?

Blauensteiner: Wir versuchen das Setting so zu gestalten, dass die Kinder sich hier relativ rasch zu Hause fühlen. Wir haben sehr viele Freizeitmöglichkeiten. Die Sozialpädagogen, jeweils eine Dame und ein Herr, stellen Vater- und Mutterersatz dar. Aber jedes Kind hat einmal Heimweh, das müssen wir überbrücken. Zu Beginn geht es sehr behutsam los, die Eleven (Schüler der vierten Klassen der Volksschule der Wiener Sängerknaben, Anm.) sind von Montag bis Freitag im Internat, jeden Mittwoch ist ein Besuchstag. Netto bleiben zwei, drei Tage über, wo Mama und Papa nicht in Erscheinung treten. Der Kontakt zu den Eltern per Handy ist in der Freizeit möglich.

Nichts ist schrecklicher als ein unglückliches Kind vor sich zu haben. Wir versuchen ein unglückliches Kind glücklich zu machen. Aber wenn es notwendig ist, informieren wir die Eltern.

derStandard.at: Der Begriff Internat wirkt für viele abschreckend, gerade für jene, die selbst einmal in einem Internat waren.

Blauensteiner: Ich war in einem Internat, wo teilweise 40, 50 Kinder die Nacht in einem Raum verbracht haben. Wo man in Zweierreihen schweigend zum Essen gehen musste und in der Studierzeit nicht sprechen durfte. Kinder wurden teilweise geschlagen. Das ist doch Gott sei Dank alles vorbei. Wir haben Zwei- und Dreibettzimmer zur Verfügung. Wir stellen nur geprüften Sozialpädagogen als Erzieher an, früher stellte man Erzieher ohne jegliche Qualifikation an. Wir geben den Kindern so gut es geht das Gefühl, als wär das ihr Zuhause.

derStandard.at: Auch die Sängerknaben machten im Zuge der Missbrauchsskandale in der Kirche Schlagzeilen, wegen Missbrauchsfällen unter den Knaben und gewalttätigen Erziehern. Wie gehen die Sängerknaben heute damit um, wenn so etwas bekannt wird?

Blauensteiner: Wenn ich hören würde, dass ein Erzieher gewalttätig wird, müssten sofort Disziplinarmaßnahmen getroffen werden. Das kann bis zur Kündigung gehen. Wir unterliegen dem Dienstrecht für öffentlich Bedienstete. Das ist Gott sei Dank noch nie passiert. Einem geprüften Sozialpädagogen ist klar, wie man mit Kindern umgeht. Kindern kann es gelingen, Pädagogen und Lehrer lange zu reizen. Aber da muss man sich im Griff haben.

derStandard.at: Wenn Burschen mit 14 die Sängerknaben verlassen, ist das sicher ein großer Einschnitt?

Blauensteiner: Zirka 50 Prozent bleiben da und besuchen das Oberstufenrealgymnasium. Ich habe aber auch dafür Verständnis, wenn jemand sagt, es reicht ihm. Dann lassen wir sie ziehen und hoffen, dass sie uns in guter Erinnerung behalten. Früher, als es noch kein Oberstufenrealgymnasium gab und die Burschen weg mussten, hatten viele ein Problem. Sie mussten in ein anderes Gymnasium gehen und waren plötzlich nicht mehr die "Stars". Das war für einige ein Schock. In einer Schule mit 1.000 Schülern ist man nur eine Nummer, bei uns gibt es 100 Sängerknaben. Wenn jemand eine Sorge hat, kann er jederzeit eine Person seines Vertrauens für ein Gespräch aufsuchen.

derStandard.at: Verstehen Sie die Sängerknaben als Eliteeinrichtung?

Blauensteiner: Ja, aber im besten Sinn des Wortes. Nämlich, dass Sie etwas Besonders sind, dass sie sich hervorheben. Und das tun Sie ohne Zweifel.

derStandard.at: Sie haben die Sängerknaben als "kleine Stars" bezeichnet. Die Buben haben 80 Konzerte im Jahr und sind elf Wochen pro Jahr unterwegs auf Tournee. Wie gehen die Kleinen mit so viel Ruhm um?

Blauensteiner: Das ist ganz unterschiedlich. Der Ruhm ist verschieden wahrnehmbar. Wenn sie zum Beispiel einen Fernsehauftritt haben, machen sie das wie Profis, sie spüren nicht, wie das von außen wahrgenommen wird. Es gibt aber auch Konzerte, wo der Kontakt mit dem Publikum spürbarer ist. In manchen Ländern reagiert das Publikum ruhig, es gibt herzlichen Applaus, die Kinder gehen ab, fertig. Dann gibt es Länder wie Japan, wo das Publikum den Künstlern gegenüber eine ganz andere Art an den Tag legt. Da stehen sie an der Bühnentüre, beschenken die Kindern, die Buben müssen Autogramme geben. Es macht ihnen aber großen Spaß.

Mich fasziniert immer, wie sie damit umgehen. Sie kommen zurück und sind untereinander ganz normale Buben, mit ihren Lausbubenstreichen, Sorgen und Nöten, mit ihrem Wunsch, eine gute Note in Mathematik zu bekommen. Es ist noch nie einer bei mir gewesen und hat damit geprahlt, dass er in der Zauberflöte gesungen hat.

derStandard.at: Sie haben das Publikum aus Japan angesprochen. Im Bereich der klassischen Musik gibt es sehr viel Nachwuchs aus dem asiatischen Raum. Gleichzeitig hört man, dass sehr viel mehr auf Disziplin Wert gelegt wird. Wie beurteilen Sie das?

Blauensteiner: Sehr kritisch. Es kommen immer wieder Kinder aus dem asiatischen Raum zu uns, weil die Eltern Konzerte gesehen haben und wollen, dass ihr Kind die Ausbildung bekommt. Wir erfahren auch, mit welcher Disziplin die Kinder hier herkommen und was die Eltern sich erwarten. Die Kinder nehmen aber sehr rasch die Auffassung von Disziplin, die wir in Europa haben, an. Wir hören immer wieder, dass die Kinder, wenn sie nach Asien zurück gehen, dann sogar Probleme wegen des lockeren Umgangs haben. Sie sind mit diesem Drill, den es in Asien gibt, bei uns nie konfrontiert. Zum Beispiel gibt es Knaben, die in Japan in die Schule gehen und wenn die Eltern wollen, dass aus ihnen etwas Besonderes wird, müssen sie am Abend in die Privatschule gehen. In Europa wissen wir genau, dass es nach der Phase der Anstrengung auch eine Phase der Erholung braucht. Ich sage immer, wenn Freizeit ist, ja nicht zusätzlich noch was anders machen.

derStandard.at: Bemerken sie bei Kindern aus dem asiatischen Raum andere Herangehensweisen, was ihre Ziele betrifft?

Blauensteiner: Was mich fasziniert ist der Wille, der bei den asiatischen Kindern dahinter steckt. Das ist bei unserern Kindern nicht so stark ausgeprägt. Ein talentierter Steirer singt aus dem Bauch heraus, hat eine tolle Stimme, und wenn es dann nix mehr ist, ist es halt nix mehr. Bei den Japanern ist der Ehrgeiz gegeben, nach dem Motto, ich will was werden. Wir haben in der 5. Klasse einen Japaner, der unlängst auch in der Staatsoper gesungen hat und er sagt sehr wohl, ich möchte hier eine exquisite Ausbildung, ich möchte vielleicht einmal Sänger werden und wenn nicht das, dann möchte ich Medizin studieren, ich möchte auf jeden Fall was erreichen. Wenn man einen anderen Fünftklassler anschaut, weiß der das nicht. Das erlebe ich auch bei vielen Maturanten. Was machst du nach der Matura? Na schau ma mal, ist die Antwort. Die Buben haben den Vorteil gehabt, dass sie zuerst zum Bundesheer müssen und sich erst dann entscheiden. Dann sagen viele, studieren wir mal, zum Beispiel Publizistik. Natürlich ist das nicht bei allen so. Es gibt auch SchülerInnen, die ein konkretes Ziel verfolgen. Aber um es auf den Punkt zu bringen: Die Asiaten sind wesentlich straighter und gewissenhafter.

derStandard.at: Im deutschsprachigen Raum hat vor Kurzem ein Buch für Furore gesorgt, das den Titel trägt: "Warum unsere Kinder Tyrannen werden". Müssen die Kinder auch im deutschsprachigen Raum zu mehr Disziplin angehalten werden?

Blauensteiner: Da traue ich mich jetzt keine eindeutige Antwort zu geben. Ich habe ein gewisses pädagogisches Prinzip und das verfolge ich und das würde ich jedem anderen Pädagogen auch raten. Erstens soll man nur mit Kindern umgehen, wenn man Kinder mag. Man soll eine Vorbildfunktion haben. Dann lernen die Kinder einen Erwachsenen kennen, der mit ihnen auf Augenhöhe umgeht. Wenn man die Kinder so erzieht, dann brauchen sie keine Tyrannen werden, dann nehmen sie das hoffentlich so an. Durch die Vorbildwirkung werden sie dann vielleicht auch zu positiven Mitgliedern unserer Gesellschaft. Aber dieser moderne Egoismus, der sich durchsetzt, ist ein gesellschaftliches Problem. Wir müssen damit umgehen lernen. Ich bin auch der Meinung, dass die Kinder heute ungleich schwierigere Voraussetzungen haben als zu meiner Zeit.

Bald ist es so, wenn man kein Zweitstudium hat, hat man schon überhaupt keine Chancen mehr, irgendwo weiter aufzusteigen. Das ist das, wo ich mir Sorgen mache. Denn wo zählt heute noch, dass ein Chef hilfreich ist. Der wird abgefragt, wie schauen die wirtschaftlichen Werte aus und sonst interessiert nichts. Um den Kreis zu schließen, ich sage natürlich nein, die Kinder müssen nicht Tyrannen werden, aber die Gesellschaft erwartet sich letztlich Menschen, die eine gewisse Härte aufweisen. Menschen, die vielleicht zuerst an sich selbst und dann an den anderen denken, weil sie sonst keine Chance haben, in unserer Welt zu bestehen. Schrecklich eigentlich, aber vielleicht wird es sich wieder ändern. (Rosa Winkler-Hermaden, Katrin Burgstaller, 18. Februar 2011)