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Für seinen neuen Roman "Nemesis", seinem bereits 31., wählte US-Romancier Philip Roth das Newark seiner Kindheit als Schauplatz - heute lebt er in New York.

Foto: REUTERS/Eric Thayer

Wien - Die letzten vier Romane von Philip Roth sind nicht nur aufgrund ihres Novellencharakters vergleichbar - keiner davon geht über die 300-Seiten-Marke -, sie weisen auch inhaltliche Gemeinsamkeiten auf. Tod, Krankheit, Verzweiflung und die drängende Frage, auf welche Weise auch der Mensch in der Moderne von fatalen Schicksalsschlägen betroffen ist, tauchen darin in unterschiedlichen Spielarten auf. Roth selbst spricht von einem Zyklus mit dem Namen Nemesis: Short Novels - so wie auch der jüngste Roman titelt.

Mit der Nemesis überträgt der US-Romancier einen Begriff der griechischen Tragödie - den Zorn der Götter, der unerbittlich zuschlägt und oft undurchsichtig für den Betroffenen erscheint - auf posttragische Verhältnisse. In Empörung fällt der junge Held, der sich mit einem kleinen Vergehen seine ganze Zukunft verbaut, im Koreakrieg und erzählt uns quasi aus dem Jenseits sein bestürzend kurzes Leben. In Die Demütigung purzelt ein alternder Schauspieler in eine Schaffens- und Existenzkrise und zieht nach einer kurzen sexuellen Wiedererweckung seinen persönlichen Schlussstrich.

Nemesis weist mit dem Sporttrainer Bucky Cantor nun einen Protagonisten auf, der für das Roth'sche Universum in seiner eindimensionalen Herzensgüte eigentlich ziemlich ungewöhnlich ist. Es ist das Setting, das seiner Fallgeschichte erst den entsprechenden Resonanzraum verleiht. Der Roman spielt in einem jüdischen Stadtteil von Newark im Jahr 1944. Nicht nur der Zweite Weltkrieg, in dem Bucky aufgrund seiner Sehschwäche nicht eingezogen wurde, tobt in der Ferne, mit einer sich ständig ausweitenden Polio-Epidemie schleicht sich auch eine viel nähere, zunehmend bedrohlicher werdende Gefahr heran. Landesweit fielen der Krankheit damals 19.000 Menschen zum Opfer.

Nagende Selbstzweifel

Bucky, ein ob seiner athletischen Statur und moralischen Grundfestigkeit von den Burschen des Viertels bewunderter jüdischer Mann, fällt in diesem Sommer die Aufgabe zu, auf einem der Sportplätze für Ordnung zu sorgen. Es dauert nicht lange, bis in dem bisher von der Epidemie verschont gebliebenen Stadtteil die ersten Polio-Opfer zu beklagen sind - auch Buckys Jungs sind betroffen. Nach dem ersten Todesopfer quälen den Trainer, dessen Selbstwertgefühl schon von seiner Untauglichkeit beeinträchtigt ist, nagende Selbstzweifel.

Dem Roman verleiht diese Gedankenschwere erst seine innere Dynamik: Wie weit geht die Verantwortung eines Einzelnen gegenüber einer unsichtbaren Bedrohung, und inwieweit darf er sich angesichts des dadurch hervorgerufenen Leids moralisch verpflichtet fühlen? Bucky ist eine Hiobfigur, die sich durch die Polio-Seuche auf die Probe gestellt sieht. Dass dieser Sohn eines Diebes, der mit der Arzttochter Marcia vor einer rosigen Zukunft steht, sein Glück nicht zugestanden werden kann; und dass er es sich selbst nicht zugesteht, das ist der Skandal des Buches. Bucky kann nur leben, indem er die Epidemie als Beweis für das Wirken eines ungerechten Gottes betrachtet - er macht das Unglück damit noch größer, als es schon ist.

Roth treibt das Geschehen mit der Gelassenheit eines souveränen Erzählers voran, der in kleinen Bildern noch den größeren Zusammenhang einfängt. Es sind allerdings erst die Brüche, die Nemesis über die Routine hinausheben. Da wäre zunächst jene Entscheidung Buckys, die alles verändert: Gegen seine innere Überzeugung - und fast auf dem Höhepunkt der Epidemie - beschließt er, die Stadt zu verlassen, um zu Marcia auf ein paradiesisches Sommercamp zu ziehen. Es ist der Knackpunkt des Buches, die Stelle, an der sich der Held mit sich selbst überwirft - und dies bitter bezahlen wird.

Formal leistet sich Roth die vielleicht noch größere Überraschung, wenn er nach rund hundert Seiten die bis dahin unpersönliche Erzählperspektive plötzlich an eine Figur anbindet - an Arnie, einen der Jungen, der auch an Polio erkrankt ist. Erst durch diese Verschiebung erhält Nemesis reflexive Distanz zu seiner moralisch so gefestigten Figur. Denn im Epilog, der einer Volte folgt, die nicht verraten werden soll, hält ebenjener Arnie daran fest, dass es der Zufall war, der zu dieser Verkettung unglücklicher Umstände führte. Die Tragödie, die Roth erzählt, ist aber die eines Mannes, der immer nur in tragischen Kategorien dachte. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD - Printausgabe, 8. Februar 2011)