Das Bild der beiden Exekutivbeamten, die in ihrem zweier Golf dreingeschaut haben, als hätten sie den Leibhaftigen gesehen, werde ich nie vergessen. Es sind schon ein paar Lenze ins Jahr gezogen, als mein Altvorderer damals den Schlüssel seiner Kawasaki W650 am Küchentisch liegengelassen hatte. Sie wissen schon, die Retro-Kawa, die so edel alt ausschaut, aber gebraucht damals einen Pappenstiel kostete. Ich sprang in die Kombi, riss die Alte an und fuhr ohne Ziel los. Gleich die erste Ampel fängt grün zu blinken an, als ich mich nähere. Obwohl die W650 vorne eine Scheibenbremse hat, ist Verzögern nicht ihre Stärke. Also am Gas bleiben, den Hintern auf die Kurveninnenseite verlagern, Knie raus und ums Eck.

Foto: Hersteller

Auf der roten Seite der Ampel stand besagter weißer zweier Golf mit den blauen Dachwarzen. Das Bild, das sich den Beamten darbot, dürfte ein eindeutiges gewesen sein: Da hat der Bersch dem Vatern den Oldtimer gsteßen und versucht sich damit das Leben zu nehmen. Die W650 wand sich in der Schräglage wie ein Plastilin-Moped, die noch kalten Reifen bemühten sich redlich, die Spur zu halten, und ich hab vermutlich nicht weniger entsetzt geschaut als die Golffahrer.

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Diese W650 hat Kawasaki nun deutlich nachgebessert. Sie kommt heuer als 800er, mit einem 773 Kubikzentimeter großen, luftgekühlten Parallel-Twin. Einige Sachen sind gleich geblieben, wie die Optik, das Getriebe mit fünf Gängen, die Lenkerposition und die Scheibenbremse vorne. Die ist auch das größte Manko der neuen W800, wie sie es auch schon bei der W650 war: Eine Scheibenbremse passt zu einem Retro-Bike wie eine Digitaluhr zum Frack.

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Außerdem dürfen wir fürchten, dass sich die zwei Kolben auch in der W800 so zahnlos in die 300er-Scheibe beißen wie bei der Vorgängerin. Wenn es eh nicht bremst, dann reicht ja auch eine Trommelbremse, will ich meinen. Aber gut, wenigstens hinten trommelt eine 160-Millimeter Simplex.

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Dafür ist die Königswelle nicht einmal mit Gold aufzuwiegen. Allein diese ist Grund genug, dieses Motorrad zu kaufen. Sowas findet man ja heute fast nirgendwo mehr – aber gut, zu einer R1, EXC oder GS würd sie auch nicht passen. Die Königswelle macht ihre optische Arbeit so gut, dass man zweimal hinschauen muss, um zu sehen, dass es auf der W800 jetzt gar keinen Kickstarter mehr gibt. Dafür hat Kawasaki die Einspritzung gut hinter den blitzenden und blinkenden Deckeln versteckt.

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Jetzt ist zwar die Verbrennung besser geworden, dafür hat die W800 mit 48 PS um zwei PS weniger als die 650er, aber mit 60 Newtonmeter hat sie etwas mehr Drehmoment. Damit ist die Kawasaki aber sehr gut motorisiert. Vor allem, weil zur Beschleunigung ja auch noch der Sound des Parallel-Twin kommt. Der Histo-Sound drängt über schöne Retro-Rohre nach außen, die sich anders als bei der W650 nun nicht mehr nach hinten verjüngen.

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Weil die W800 ja direkte Nachfahrin der 1966 gebauten W1 ist und damals Kniepolster am Tank einfach dazugehörten, hat auch die W800 welche. Dazu gibt es Blinker in der Größe von heutigen Disco-Spots, ein durchgängiges Sitzpolsterl im Sofa-Format und zwei Rund-Instrumente, die durch die Hände eines Designers mit Geltungsdrang gegangen sind. Aber wenn man auf der Retro-Kawa sitzt und einem die Blicke nichtsahnender Menschen folgen, die darum trauern, dass so schöne Maschinen heute halt leider nimmer gebaut werden, ist ziemlich wurscht, wie das Ziffernblatt aussieht, über das der Zeiger gerade huscht.

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Ach ja, um auf die beiden Beamten zurückzukommen. Sie folgten mir nicht, wollten keine Papiere sehen und mir kein Geld abknöpfen. Als mein Vater nach Hause kam, stand die W650 schon wieder in der Garage, und der Schlüssel lag am Küchentisch. Und wäre der Inspektor nicht ein alter Bekannter meines Vaters gewesen, der seine Maschine sofort erkannte und ihn anrief, um ihm zu erzählen, was für eine Flasche sein Sohn ist, würde mein Altvorderer bis heute nicht wissen, dass ich mit seiner W650 gefahren bin.

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Technische Daten:

Motor: Luftgekühlter 4-Takt-Reihen-Zweizylinder
Hubraum: 773 ccm
Leistung: 48 PS bei 6500/min
Drehmoment: 60 Nm bei 2500/min
Getriebe: Fünfgang
Rahmen: Doppelschleifen-Stahlrohr-Rahmen
Reifen vorne: 100/90-19M/C 57H
Reifen hinten: 130/80-18M/C 66H
Radaufhängung vorne: 39-mm-Teleskopgabel
Radaufhängung hinten: Schwinge mit zwei Federbeinen
Bremse vorn: Einscheibenbremse 300 mm Doppelkolben
Bremse hinten: Simplex-Trommelbremse 160 mm
Sitzhöhe: 790 mm
Gewicht fahrfertig: 217 kg
Tankinhalt 14 Liter

Preis: 9899 Euro

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