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Roland Koch inmitten eines Zwischenfalls: Absurditäten und Widersinnigkeit werden in Andrea Breths Szenenrevue "Zwischenfälle" zum Überlebensmittel.

Foto: APA/Georg Hochmuth

Wien - Die zehn Herrschaften (vier Damen, sechs Herren), die in ihren knitterfreien Business-Outfits auf der Bühne des Wiener Akademietheaters in ebenso besorgniserregende wie zwerchfellerschütternde Schwierigkeiten geraten, kann kein Drama mehr retten. Das Schauspiel, wie wir es zu kennen belieben, müht sich an den großen Zusammenhängen ab. Es erfindet Heldinnen und Helden, die es unter Anwendung eines ganzen Arsenals von Theaterkunstkniffen während langer, mühsamer Stunden in den Staub stürzt.

Die zehn Figuren aber, die Regisseurin Andrea Breth durch eine Ansammlung von 53 Miniaturszenen hetzt, sind glücklichere Zeitgenossen: Sie haben die große abendländische Schicksalsdramatik ausgestanden. Sie haben die lähmenden Fragen nach Schuld und Sühne glücklich hinter sich. Sie sind, mit einem Wort, aus dem Gröbsten raus.

Sie bleiben deswegen nicht untätig. Sie klammern sich jetzt nur an absurde, groteske oder bloß banale Szenensplitter wie Schiffbrüchige an die Planken. Sie erleiden Zwischenfälle, so der Titel dieser Revue. Breth, sonst ausschließlich für die schwer mit Sinn beladenen Theaterunternehmungen zuständig, hat ihr eigenes Klischee von der Bühne weggedrückt: Sie frönt - zum Schein - der Heiterkeit. Dabei lässt sich auch nichts Furchtbareres, die Würde des Menschen Beleidigenderes denken als die grotesken Episoden der Herren Georges Courteline, Pierre Henri Cami und, als Primus inter Pares: Daniil Charms (1905-1942), der mystische Dadaist aus St. Petersburg.

Die erste Szene gibt bereits den Ton vor. Er ist auf A gestimmt, "a" wie absurd. Ein Golfspieler (Gerrit Jansen) hackt in einem Hof aus Pressspanplatten (Bühne: Martin Zehetgruber) mit dem Schläger Löcher in die Luft. Der greise Hans-Michael Rehberg zieht tänzelnd einen Industriestaubsauger hinter sich her, während ein Herr ohne Hosen (Markus Meyer) von der Höhe des Reinigungsgerätes herab "Ausgerechnet du" trällert. Blackout.

Fallende Wände

Von Hosen und Bällen handeln im Folgenden noch weitere Sketches. Aus dem Schnürboden fallen Trennwände herab, die die Bühne zur Gangflucht verengen. In einigen Fällen sind riesige Löcher in den Prospekt gerissen, als wären die Golfbälle zu Meteorkugeln angeschwollen. Styroporplatten liegen herum wie in einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Es hat während des ganzen Abends den Anschein, als wäre eine Katastrophe passiert, deren Auswirkungen nur nicht mehr zusammenhängend erzählt werden können. Die schlimmsten Katastrophen, zeigt Breth, reizen zum Lachen. Absurdität und Widersinnigkeit sind Überlebensmittel.

Weil es aber schlechterdings keine Abfolge gibt, die nicht auch Spannungsbögen hervorriefe, reimt sich der herzerfrischende Abend wie von selbst zur Erzählung zusammen. Er zeigt den Wartesaal des Lebens, in dessen Korridoren ein "Bürger Myschin" (Peter Simonischek) herumliegt, um, des angenehmen Effekts wegen, einer Edelhostess (Corinna Kirchhoff mit peroxydblonder Perücke) unter den knapp sitzenden Rock zu blinzeln.

Geilheit und Gewalt sind korrespondierende Wirkungen: Herren von ehrfurchtgebietender Eleganz (Simonischek, Roland Koch) tragen wildfremden Menschen Gesäßtritte an. Ein korpulentes Kind (Udo Samel) leitet, nach erheiternder Absolvierung eines Bodengymnastikprogramms, die perfide Einäscherung seines Trinkervaters ein.

Die Welt, wie wir sie kennen, ist aus den Fugen. Frauen stecken mit zappelnden Beinen in der Mauer. Alternde Ehepaare hängen mit dem Doppelbett an der Stubenwand, als wäre die Gravitation um 90 Grad gewandert.

Über allen Lockerungsübungen aber, die von den Schauspielern mit Bravour geleistet werden, liegt ein strenges Odeur blinder Gehässigkeit: Mögen die Fertigkeiten der Zirkusartistik auch in den Alltag hinübersickern; dieser wird von Breth, der großen Desillusionistin, als gewaltförmig beschrieben. Nach dem Ende der großen Erzählungen lauert, als kleinster gemeiner Nenner, der Terror. Da mögen Büroherren Ballett tanzen (Meyer), Reinigungsfachkräfte sich in schwäbische Fruchtbarkeitsgöttinnen (Johanna Wokalek) verwandeln: Die Überwindung der Schwerkraft, die diesen stupenden Abend wiederholt in lichte Höhen hinaufreißt, bleibt ein Akt des Mutwillens. Andrea Breth lässt nicht mit sich scherzen.

Ideal der Schwerelosigkeit

Andererseits: Näher als in Zwischenfälle wird die mit ihrem Ensemble frenetisch Bejubelte dem Ideal der Schwerelosigkeit kaum rücken. Andrea Breth als Nachbarin des so ganz anders gearteten Kollegen Christoph Marthaler: die nicht geringste Pointe eines fantastischen Abends. (Ronald Pohl, DER STANDARD - Printaugsabe, 7. Februar 2011)