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Das Auge zeigt dem Leser zuerst das Exzentrische: Doppelpunkt am Zeilenanfang, Komma am Gedichtende, Klammer, Versetzung, Kursiv- und Großschrift, zwei Punkte statt eines oder dreier, ein "usw." mitten im Vers. Und immer wieder dies: "1 Zitronenfalter im gelben Wald 1 Zitronenfalter / sagt sie 1 welkes Blatt 1 Zitronenfalter". Als seien diese Gedichte in großer Hast geschrieben, ohne Anfang und Ende, eine chaotische Zettelwirtschaft. Als seien es nicht Gedichte, sondern Gedichte zu Gedichten, noch zu schreibenden oder längst irgendwo geschriebenen. Tatsächlich aber ist Friederike Mayröckers Flüchtigkeitspoesie Produkt verzweifelter Konzentration: "ach möchte schreiben wehe mir käme einer jetzt / da herein : würde ihn wegblasen müssen in schrecklicher / Aufwallung usw.". Mayröcker-Gedichte beanspruchen alle Energie für sich. Der Welt draußen lassen sie kaum noch Luft zum Atmen. Dies muss (darf) der Leser am eigenen Leib erfahren. Atemlose Zeilen wie: "die Kübel voll mit Matrizen Makrelen nackten Narzissen", die nicht einmal mehr für Satzzeichen Zeit und Kraft genug aufbringen, bringen auch ihn an den Rand der Erschöpfung. War das nun eine lange, eine kurze Zeile? Die Worte scheinen verschwendet: eines fast wie das andere. Aber sie lassen keinen aus den Fängen: das Gleiche, das gerade nicht das Gleiche ist, verlangt volle Aufmerksamkeit, gestattet keinen Blick über den Blattrand hinaus. Wozu auch? Das spröde Nebeneinander der Worte und aber auch ihr schier erotisches Anspielen aufeinander sind ein magischer Bann.

Es ist keine fremde Sprache, die da gesprochen wird. Es ist die eigene, vielmehr: die eigenen, die diese Autorin ausweidet, bis sie sie selber nicht mehr kennt. Aber auch: damit sie sie kennt. Niemand weiß, was "Widerschlaf", "Wackelsteine", "Hausgedanken", "nachhinein-Wäldchen", "vertikale Verrücktheitskatzen" sind. Aber in jedem Fall stellen wir uns etwas vor. Nicht das Einzelne ist fremd - "nur" das Ganze. Zum Fantasieren, zum Träumen allerdings ist Friederike Mayröckers Poesie nicht gemacht. Wer abhebt, hat rasch keine Luft mehr unter den Flügeln. Diese Gedichte nehmen die Fantasie an die Kandare, zwingen sie immer wieder, am Wort Maß zu nehmen. Friederike Mayröckers Gedichte sind von einer gnadenlosen Wörtlichkeit.

Friederike Mayröcker hat den Band aus ihren Gedichten der Jahre 1996-2001 selber zusammengestellt. Im Inhaltsverzeichnis sind sie mit Jahr und Tag der Entstehung versehen, und es scheint, als seien Morgen und Abend das Einzige, was ihren perennierenden Fluss strukturiert; was sie anfangen und aufhören lässt, was sie veranlasst und erfüllt: eine Begegnung, eine Erinnerung, der Frühling, ein Schnee, ein Gespräch, eine Lektüre, ein Konzert, der Haushalt. Keine großen Zeitthemen, kein Millenniumswechsel, nicht Krieg und Frieden. Mit einer Ausnahme: "Sonnenfinsternis 99". Aber das Gedicht ist bezeichnenderweise ein Jahr später erst entstanden, und es erinnert nicht an die Sonnenfinsternis, sondern an Ernst Jandl, eine hellere Sonne und eine größere Finsternis. Ein bitteres, ein heiteres Gedicht: "erst wieder in 700 Jahren sagt ER / 1 Jahrhundert Ereignis sagt ER / solltest du nicht versäumen sagt ER" Und was sagt sie? "1 Jahr danach SEINE ewige Finsternis". Von diesem Kaliber ist der Humor, der Friederike Mayröckers "Seelendialog" aufmischt.

Nicht mit kleinen, sondern bloß mit eigenen Dingen also ist sie befasst. Mit Alltäglichem möchte man meinen, aber bedenkt man, welche Turbulenzen selbst "ein sterbendes Azaleenbäumchen in der Küche" in einem ganz stillen Gedicht verursacht, ist an diesem Gedanken nichts mehr Beruhigendes. Es sind tägliche, nicht alltägliche Gedichte: Ausdruck täglichen Ergriffenseins, Entflammtwerdens, Besetztwerdens durch Sprache. Wie Vogelschwärme rauschen die Wörter heran, lassen sich nieder und lassen oft genug alles abgeweidet zurück. Am Ende eines Gedichtes herrscht Mattigkeit, Erschöpfung - das Glück der Dichterin. Der Stein (die Pein), sagt Camus, mache Sisyphus glücklich, weil er ihm nahe sein könne. Friederike Mayröckers Gedichte sind solche Steine. Wange an Wange ist sie mit ihnen, nicht mehr unterscheidbar von ihnen. Nie sind diese Gedichte privat, aber immer intim: "Peristaltik des Gehirns".

Friederike Mayröcker ist weder Sprachartistin noch Sprachmagierin. Ihre Kunst ist nicht das Beherrschen, sondern das Unterliegen. Ihr Werk ist ein Werk der extremen Wortlosigkeit eigentlich: "Ich kann nichts mehr zusammenbringen / bin sacht Tippmädel : sacht verloren". Die Sprache ist das, was sie immer wieder verlässt, wovon sie sich absondert: "das Wort BESEELT : zum Sonderling geworden, den man / belächelt wie dessen Schreiber." Aber Friederike Mayröcker verlässt nicht, was sie verlässt. Das Inhaltsverzeichnis des Bandes liest sich wie ein abermaliges Gedicht, das Gedicht der Gedichte usw. Die Titel ihrer Gedichte sind gar nicht Titel, sondern als Titel gesetzte Zeilen, die selber wieder nach einem Titel verlangen.

Jeden Tag ein Gedicht also? Es gibt auch mehrtägige, über mehrere Tage hin entstandene, liegen gebliebene und wieder aufgenommene. Und der "duftende Tannenzweig auf der Tischplatte" des Gedichtes vom 19. 12. 99 duftet im Gedicht vom 2. 1. 00 immer noch. Friederike Mayröckers auktoriale Unterlegenheit ist erarbeitet: labor omnia vincit - auch die, die sie tut. "Mein Arbeitstirol" heißt der Band listig, sich der Arbeit unterziehend und sie gleichzeitig dahin verweisend, wo sie hingehört: nach Tirol. Friederike Mayröcker ist eine ausgefeilte Technikerin des Überblendens und Ausblendens, Sichtens und Schichtens, Zitierens und Plünderns. Vielleicht gehört das zum Mysterium ihres Schreibens: diese Kombination von Schweiß und Spontaneität. "Sucht und Zucht", sagt sie, das reimt sich. Das tägliche Entflammtwerden ist auch ein Entflammen: "brennende Träne". Wo der Atem der Dichterin geht, glühen die veraschten Dinge auf. Ihre Gedichte sind ständige Anrede, Namengebung, Taufe. Dass fast alle gewidmet sind, kommt aus ihrem tiefsten Innern. Im Schreiben wird Schmerz Öffnung, Gnade: "Jubel". "Möchte alle Menschen umarmen" ist ein schockierend deutlicher Satz am Ende eines Mayröcker-Gedichts, aber kein aufgesetzter. Er meint auch nicht Einverständnis mit der "tosenden Schöpfung". Er wendet nur den andern, ebenso schockierenden wie simplen Einsamkeitssatz ins Vitale: "habe mit niemand /gesprochen den ganzen Tag, nur : zahlen bitte im Gasthaus / zumittag".

Einmal nur klafft eine viermonatige Lücke: keine Gedichte von Juni bis Oktober 2000. Es ist die Zeit nach dem Tod ihres Lebensfreundes Ernst Jandl. Kann sein, dass Friederike Mayröcker da keine Gedichte geschrieben hat; kann sein, dass sie keine in die Auswahl aufnehmen mochte. Der Verlust eines Menschen gehört bei Friederike Mayröcker nicht zu den Anlässen eines Gedichts. Er ist aber das, was sich in jedem ereignet. Ihre Sätze, die kaum finite Verbalformen brauchen, taugen nicht zur Erinnerung. Sie kennen nur die Gegenwart, den unmittelbaren Augenblick des Gedichts. Sie sind weder Bildnis noch Gedächtnis, sondern Ereignis. "seine von mir weggegangenen Augen" - das sind die Augen, die sie ansehen, jetzt. Friederike Mayröcker redet nicht von Ernst Jandl. Ihre Anrede lässt ihn reden: "zählst die Stunden die Tage die Jahre die uns noch voneinander trennen". Auf welche Welt es ankommt im Leben, ist jetzt klar. Der "Lippenzauber" ist nach Ernst Jandls Tod nur noch heftiger geworden, heftiger und dauerhafter als Erz.

Das Schlussgedicht des Bandes ist eines der ergreifendsten: "habe niemand wo ich liegen kann wenn / öffnen die Blumen wenn öffnen die Sterne der Mond". Es ist der späte, der hinkende Genosse des Mitternachtsgedichtes von Sappho: "Der Mond ging unter / und die Pleiaden. Schon ist / Mitternacht und die Zeit verrinnt. / Ich aber liege alleine." Bis man merkt: ER ist es, den Friederike Mayröcker aus ihrer Kehle sprechen lässt. So nach innen hat sich ihre Exzentrik einen Weg gebahnt. (Von Samuel Moser/DER STANDARD; Printausgabe, 10.05.2003)