Sie seien acht Millionen im ganzen Land, verkündeten die Organisatoren des Millionen-Protestes am Dienstag auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Sie geben Präsident Hosni Mubarak bis Freitag Zeit für einen Rücktritt.

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Wer den Tahrir-Platz regiert, regiert Ägypten. Das lehrt die Geschichte des Landes. Am Tag acht der Proteste waren es Hunderttausende aus allen Ecken Ägyptens. Wirklich zählen konnte sie niemand. Auch die sternförmigen Seitenstraßen waren voll. "40 Kilometer sind wir zu Fuß gegangen, bis wir in einen Minibus steigen konnten", sagt ein Mann aus Kafr el-Sheikh, 150 Kilometer nördlich von Kairo. Er hatte sich mit vielen Gleichgesinnten gleich nach dem Frühgebet um fünf Uhr auf den Weg gemacht. Die Armee hatte zwar erklärt, sie werde nicht schießen, die Demonstrationen seien gestattet, aber dennoch hatte das Regime versucht, den Strom zu bremsen und den Betrieb von Eisenbahn und Bussen eingestellt.

Ein Angestellter einer staatlichen Garnfabrik in der Delta-Stadt Shibin al-Kawm erzählt, dass auch dort die Menschen täglich zu Tausenden auf die Straße gehen - immer am Nachmittag von zwei bis sieben. Gewalt hat es keine gegeben. "Wir waren viel mehr als die Polizei", begründet er diese Friedfertigkeit. "Jetzt wollten wir sehen, was in Kairo los ist. Das staatliche Fernsehen zeigt uns nur leere Straßen, und wir bleiben, bis Mubarak gegangen ist."

Die Stimmung ist gelöst, fast euphorisch. Ein Drache mit Mubaraks Konterfei steigt hoch über den Platz. Keiner muss verdursten oder verhungern. Die Solidarität ist groß. Viele verteilen Wasser, Kekse und Brot. Niemand will dafür Geld. Der Strom aus allen Richtungen auf den riesigen Platz reißt auch am Nachmittag nicht ab, darunter sind viele Ausländer, die in Kairo leben. An allen Eingängen werden von Freiwilligen Taschen und Ausweise kontrolliert.

Angst vor Provokateuren

Es geht die Angst um, Provokateure des Regimes könnten Waffen einschmuggeln, um Panik zu verbreiten. "Gott hat vorbestimmt, wann und wo ich sterbe. Wenn es hier sein muss, dann eben hier", sagt ein alter Mann, der zum letzten Mal in den 1970er-Jahren gegen Israel protestiert hatte. Manche halten sich an die Ausgangssperre ab 15 Uhr. "Wir respektieren das Gesetz", erklärt Madiha, die mit ihrer ganzen weit verzweigten Familie, alles Ärzte und Medizinstudenten, am Millionenprotest ebenso teilnimmt.

Es sind Bürger aus allen gesellschaftlichen Schichten hier. Viele Gutsituierte, die ihr Geld bei ausländischen Privatfirmen verdienen. An Arbeit ist ohnehin nicht zu denken. "In der Nacht halten die Leute auf der Straße Wache, dann kommen sie müde ins Büro, diskutieren nur über Politik und müssen früh wieder nach Hause", schildert ein Firmenchef, der all seine Niederlassungen im ganzen Land geschlossen hat. "Ich mache einen guten Job und daneben nehme ich mir die Rechte eines Bürgers", sagt Amin, der bei einem internationalen Multi arbeitet und auf die Straße geht, seit er die ersten Bilder von Verwundeten und Toten gesehen hat. "Wie viele müssen noch sterben, bis du gehst?" wird der Präsident auf einem Transparent direkt gefragt.

"Wir wollen eine neue Verfassung, in der der erste Artikel wie in Deutschland festschreibt, dass die Würde der Bürger unantastbar ist", nennt ein Fremdenführer sein wichtigstes Anliegen. "Ich verdiene 3750 Euro im Monat, das ist keine Revolution der Armen", lässt er wissen. Niemand lässt sich auf eine Ideologie oder eine politische Strömung festlegen. "Wir sind das Volk" muss als Etikette genügen. Viele kritisieren die Berichterstattung im Ausland, die erneut die islamistische Gefahr heraufbeschworen und die Plünderungen maßlos übertrieben habe.

Mubarak muss gehen, der Ausnahmezustand aufgehoben, und demokratische Institutionen müssen aufgebaut werden, das sind die zentralen Forderungen, über die sich alle einig sind. Das Angebot zu einem Dialog des neu ernannten Vizepräsidenten Omar Suleiman genügt nicht. "Für etwa fünf Jahre sollten alle Gruppierungen zusammen regieren. In dieser Zeit müssen das Land und demokratische Institutionen aufgebaut werden", erklärt Murat, Nahost-Chef einer internationalen Pharmafirma, Mercedesfahrer und Villenbesitzer, wie er selbst betont. Er tritt auch dafür ein, dass Mubarak nach seinem Rücktritt das Land verlässt. "Wir wollen uns mit unserer Zukunft beschäftigen und nicht mit seiner. Solange er hier ist, bleibt er ein Thema", lautet die Begründung.

Den ganzen Tag über kreisen Helikopter über dem Tahrir-Platz und seiner Umgebung. Viele der Demonstranten wollten wie schon in den Nächten davor dort kampieren. "Wir geben Mubarak bis Freitag Zeit zurückzutreten, dann stürmen wir das Fernsehgebäude, erklären ihn für abgesetzt und ziehen weiter zum Präsidentenpalast", schildert der Medizinstudent Ismael kämpferisch die nächsten Schritte. (Astrid Frefel aus Kairo/DER STANDARD, Printausgabe, 2.2.2011)

Tahrir-Platz: Eine Mubarak-Puppe wird aufgehängt. Die meisten wollen den Präsidenten aber nur ins Exil schicken. Foto: AP
Viele Demonstranten hatten ihre Kinder mit. Foto: AP / Hamra