Matthäus Schmidlechner (als Kaspar H.) lieferte am Linzer Landestheater die grandiose Charakterstudie eines identitätsfreie Wesens mit sehr freundlichen Charakterzügen.

Foto: Christian Brachwitz

Linz - An diesem unschuldigen Wesen könnte die Welt genesen: In Anzug und Krawatte gesteckt, mit Blumentöpfchen und Koffer ausgestattet, taucht dieser Namenlose auf, teilt sich nur durch Zahlen und Brabbelsprache mit und begegnet der Welt mit der staunenden Freundlichkeit eines Kindes. Als rätselhaftes Wesen wird er von der Umwelt jedoch nicht einfach zur Kenntnis genommen. Mit seinem wehrlosen Außenseitertum landet er zwar im Zentrum - jedoch nur, um als Objekt diverser Interessen der Benützung zugeführt zu werden.

Da ist die "Crocks"-Gang, die ihn missbraucht und zu Pistolen greifen lässt. Da ist die Chormasse, die ihn vorführt. Da ist die Kommissarin (mit eindringlicher Schärfe agiert Cheryl Lichter), die ihn ob seiner Unkalkulierbarkeit als Gefahr betrachtet und bei einer Art Milgram-Experiment einer befragten Person Stromstöße verpassen lässt. Und da ist auch der Psychologe Daumer (souverän Dominik Nekel), der helfen will und seine Ratlosigkeit doch nur in die Diagnose "Autismus" verpackt.

Natürlich wäre da auch die junge Clara (souveräne Koloraturarbeit: Elisabeth Breuer), die auf der Gefühlsebene Zugang zum irgendwann mit dem Namen Kaspar Versehenen findet. Schlussendlich aber gibt es in Kaspar H., der neuen Oper von Komponist Balduin Sulzer und Librettistin Elisabeth Vera Rathenböck, natürlich kein Happy End. Kaspar, der keine klare Geschichte zu haben scheint und auch keine Identität, wird in die Gewaltdynamik hineingezogen und wieder zum wehrlosen Schießwerkzeug degradiert, das "mordet".

Bis es soweit ist, zieht sich die neue Opernsache, auf der wahren Geschichte von Kaspar Hauser basierend, doch ein bisschen. Durch die klare und die Figuren sorgfältig ausformende Arbeit von Regisseur André Turnheim jedoch geraten zumindest die vokalen Solomomente der Oper zu kleinen Werkinseln des lebendigen Musiktheaters. Hier sieht man: Sulzer schreibt entlang der eigenwilligen Kaspar-Art, sich auszudrücken, effektvolle Arien, in denen sich die Melodielinien inspiriert mit kleinen Sprachspielen vereinen.

Wobei: Ohne die grandiose darstellerische und vokale Leistung von Matthäus Schmidlechner (als Kaspar) wäre dies wohl nicht hörbar geworden. Bei Kaspar hat er eine subtile Charakterstudie eines quasi identitätsfreien und doch charaktervollen Wesens hingelegt, die über die Längen einer stilisiert angelegten, letztlich jedoch etwas vage und dramaturgisch unkonzentriert wirkenden "Geschichte" trägt.

Dass dem so war, mag auch an den asketischen Orchestervorgängen gelegen haben: Sulzer setzt auf eine Art freie Serialität, die doch tonale Wirkung entfaltet und Instrumentalsolisten zu linearer Arbeit ermuntert. Für die Bühnenvorgänge wirkt dies jedoch - und auch die pochende, oft perkussive Repetitionsstilistik - kaum energiespendend, zumal die Sangeslinien oft nur rhythmisch verdoppelt und also quasi unterstrichen werden.

Dass Dirigent Dennis Russell Davies "nur" für geregelten Ablauf sorgte, ohne energisch bezüglich Klangpräsenz zu intervernieren, mag den Eindruck verstärkt haben. Sollten die Elemente durch Folgeaufführungen zueinanderfinden, wird die Oper jedoch sicher an Kompaktheit gewinnen. (Ljubisa Tosic/DER STANDARD, Printausgabe,31. 1. 2011)