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Die samtbezogenen Sitze werden mit Plastiküberzügen geschont, bis sich wieder Kundschaft findet.

Foto: APA/EPA/Andrea Merola

Einen Abend zuvor noch hatten Menschen in Jacken und Schals gehüllt unter Heizstrahlern bis in die Nacht hinein an den im Freien aufgestellten Tischen vor den Restaurants im Cannaregio-Viertel gesessen und gegessen. 14 Grad warm und sonnig war es an dem Wintertag, sechs Grad waren es zu später Stunde. Der Vollmond beleuchtete den Spinat-Salat mit Grana und die hausgemachte Lasagne. Ein paar Häuser weiter standen derweil junge Leute mit Weingläsern in der Hand vor einer Bar am Kanal. Und dreißig Zentimeter von ihnen entfernt schipperte ein kaum beleuchtetes Wassertaxi im Schritttempo vorbei Richtung Lagune. Aus einem Fenster im ersten Stock drang klassische Musik, zwei Häuser weiter hing Wäsche zum Trocknen aus dem Fenster.

Doch in der Nacht kam plötzlich das Hochwasser. Sirenen weckten die Anwohner, sie verrammelten die Haustüren mit halbhohen Metallwänden, damit die Lagune nicht bis ins Wohnzimmer schwappt. Sie wuchteten Bretter und Metallgestelle, bauten Stege in manchen Gassen auf. Und jetzt ist auch noch der Regen da: Bleigrau und schwer hängen die Wolken über der Lagunenstadt. Sie haben die Winter-Melancholie nach Venedig mitgebracht, das Bühnenbild mit einem Schlag verändert.

Schlimm ist das nicht - eher im Gegenteil: Denn das Grau hat etwas Geheimnisvolles, das Hochwasser etwas endzeitlich Unwirkliches, die Stadt plötzlich ein ganz anderes Gesicht. Eines, dem man sich nicht entziehen kann. Eines, das einen immer weiter laufen und selbst die abgelegenste Gasse erkunden lässt.

Als wollte Venedig versinken

Die vielen Kanäle treten in einem Tempo über die Ufer, dass man dabei zuschauen kann. Vertäute Boote hebt es dorthin, wo eben noch Land war. Sie schwimmen auf den gepflasterten Fußwegen. Sogar aus den Gullis quillt die Lagune und flutet die Plätze. Es ist, als wollte Venedig versinken, als holte die Lagune sich die Fläche zurück, die die Stadt auf Stelzen bis dahin eingenommen hatte. Und als sollte dieser Untergang sehr schnell, fast lautlos und vor aller Augen vonstatten gehen.

Im Winter gehört all das dazu: das Grau, Regen oder Nebel, das Hochwasser. Es gibt Leute, die genau deswegen hinfahren - welche, die meinen, Venedig biete zu dieser Jahreszeit mehr Raum für Gedanken als im Sommer, wenn sich die Touristenmassen von frühmorgens bis spätabends unaufhörlich durch die Straßen schieben und Venedig zu viel von Disneyland und Jahrmarkt habe. Nun aber kann die Fantasie auf Zeitreise gehen, wenn sich die zahllosen Brücken nur mühsam aus dem Morgennebel schälen, von entgegenkommenden Passanten nur die Schritte zu hören sind und erst kurz vor der Begegnung Konturen sichtbar werden. Es ist, als ob das Wasser überall wäre - vom Himmel fallet, in der Luft hänge. Und trotzdem fühlen sich diese Augenblicke nicht bedrohlich an: weil sie Alltag für die Einheimischen sind und die mit größter Selbstverständlichkeit damit umgehen.

Auch die Linienboote sind unterwegs wie eh und je, die Schaufenster der Boutiquen erleuchtet, die Stände auf dem Rialto-Markt geöffnet, wo Venezianer morgens frischen Fisch und Gemüse einkaufen gehen und Touristen selbst im Sommer in der Unterzahl sind - obwohl die berühmte Rialto-Brücke nur dreißig Schritte entfernt ist. Die Venezianer sind winterliche Wetterunbill gewohnt, ziehen Gummistiefel an, nehmen beim Morgenspaziergang die Schoßhündchen ein paar Dutzend Meter weit auf den Arm, bis sie wieder höhergelegenes Terrain erreicht haben. Die Geschäftstüchtigsten verkaufen so etwas wie kniehohe Müllsäcke mit Schnürzug und Plastiksohle als simpelsten Gummistiefelersatz an die schlechter ausgestatteten Fremden. Die Senegalesen, die sonst falsche Marken-Handtaschen und nicht minder unechte Uhren auf dem Markusplatz verramschen, haben das Sortiment über Nacht umgestellt auf zusammengefaltete Mini-Regenschirme für sieben Euro und machen bessere Geschäfte als sonst.

Motiv-Gummistiefel

Wasser überspült einen Moment lang die Gondel, reicht bis weit über die Hüfte des Gondoliere, übersteigt sogar die komplette Häuserzeile im Hintergrund - bis der nächste Schritt gesetzt ist, der Gummistiefel mit der aufgedruckten Venedig-Ansicht auf dem Schaft den Schritt auf die Türstufe eines Restaurants hinterm Markusplatz gemacht hat und im Trockenen steht: Solche Motiv-Gummistiefel sind plötzlich der Renner - und ein Ladenhüter, sobald sich das Wetter bessert. "Wir Schuhverkäufer", ruft einer aus der Ladentür im San-Marco-Viertel, "sind bei Winterwetter die Gewinner. Ich bete jeden Tag für Regen und Hochwasser", beteuert er und seine Mundwinkel verraten, dass er es doch nicht ernst meint.

Die echten Gondeln auf dem Canal Grande tragen derweil dunkelblaue Plastik-Kapuzen über ihren samtbezogenen Sitzen. Ihre Gondolieri drängen sich in einer Bar am Ufer, trinken Cappuccino und warten auf die für den Nachmittag angekündigte Rückkehr der Sonne. Nur ein koreanisches Pärchen kann nicht warten und möchte unbedingt jetzt zur Rundfahrt starten - mit Abgesang und Erinnerungsfoto.

Warum Lorenzo della Toffola das Winterhalbjahr so mag? "Weil weniger zu tun ist als im Sommer. Keine Hektik. Und weil ich dann zwei, drei Wochen auf Urlaub fahren kann." Der Mann arbeitet auf der Gondelwerft Squero di San Trovaso - einer von nur noch zweien in Venedig.

Hauptsächlich leben Lorenzo und seine Leute vom Reparaturgeschäft. Und da gilt in der Hochsaison stets "schnell, schnell", damit jedes beschädigte Schiff umgehend wieder auf Fahrt gehen und Geld einspielen kann. 

Auch die Kellner haben nun endlich Zeit für einen Plausch mit den Gästen, für ein freundliches Lächeln zwischendurch, der Koch für eine noch bessere gegrillte Dorade, für perfekte Pasta und all das, was sonst manchmal auf der Strecke bleibt: ganz unabhängig davon, ob gerade Hochwasser ist, ob es regnet, Nebel zwischen den Häusern klebt oder die Sonne scheint.

Golden leuchten die Fassaden

Irgendwann diesen Nachmittag brummt wieder ein Motorboot, eines dieser sündhaft teuren Wassertaxis, durch den Seitenkanal, wo gestern die Leute mit Weingläsern standen: Ein gutes Zeichen, der Pegel muss gefallen sein. Haarscharf passt das Boot wieder unter der Brücke hindurch. Der Wind hat die Wolken Richtung Adria weggeschoben. Das Wasser verschwindet wieder in den Gullis, und es ist, als ob der düstere Vorhang aus Regen und Nebel mit in den Untergrund gesogen wird - und als ob die Sonne diese Stadt nun wieder wie hydraulisch aus dem Morast emporzieht.

Golden leuchten plötzlich die Fassaden der kleinen Handwerkerhäuser im Cannaregio-Viertel, von denen mehr und mehr als Ferienhäuser an Selbstversorger vermietet werden. Majestätisch strahlen die prachtvollen Palazzi ein paar Gehminuten weiter am Canal Grande. Und plötzlich ist diese Hauptverkehrsader durch die Stadt voller Gondeln, als ob es Nachholbedarf gäbe. Vor ersten Restaurants stehen schon wieder Tische im Freien. Ein Kellner schafft bereits Heizstrahler und Öllampen herbei - damit es draußen nicht zu kalt wird. Und damit nachher die Pasta richtig beleuchtet ist. (Helge Sobik/DER STANDARD/Printausgabe/29.1.2011)

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