Christian Timm: "Ich hätte Tibor Foco sein Studium nicht erlaubt."

Foto: Standard/Regine Hendrich

Christian Timm, Anstaltsleiter von Stein, glaubt, dass im Gefängnis niemand besser wird. Warum in der Haft Wirtschaftskriminelle extrem leiden und Betrüger gern in der Küche arbeiten, erfragte Renate Graber.

STANDARD: Vollziehen Sie hier Gerechtigkeit?

Timm: Ob hier Gerechtigkeit vollzogen wird? Bei uns in Stein? (Pause) Meine Aufgabe ist es, rechtskräftige Urteile zu vollziehen. Und ich vertraue in den Rechtsstaat Österreich. Also: Ja, hier wird Gerechtigkeit vollzogen.

STANDARD: In Stein sitzen 776 Männer. 70 haben lebenslang, 70 um die zwanzig Jahre, hundert sind geistig abnorme Rechtsbrecher, deren Haftdauer von ihrer Genesung abhängt. Hundert sind Mitglieder der organisierten Kriminalität, 140 schwer drogenkrank ...

Timm: Die restlichen 250 sind für Stein Normale: Insassen aber, die in anderen Anstalten auffällig waren, weil sie etwa von Freigängen nicht mehr zurückgekommen sind.

STANDARD: Kennen Sie eigentlich alle Häftlinge hier?

Timm: Nein, aber die meisten geistig Abnormen, die von der organisierten Kriminalität, die Langstrafigen, bei denen ich entscheide, ab wann wir in die Entlassungsvorbereitungsphase einsteigen. Und die, die sicherheitsmäßig Probleme machen und daher im Hochsicherheitstrakt untergebracht sind. Und die, die immer durch die Medien geistern.

STANDARD: Fürchten Sie sich eigentlich vor manchen Insassen?

Timm: Ob ich Angst hab'? Nein, ich bin gelernter Justizwachebeamter.

STANDARD: Ihr Vater und Ihr Onkel waren Justizwachebeamte in Krems, und Sie ...

Timm: Ich wollte Anwalt werden, wir waren aber sechs Kinder, und ein Studium war nicht drin. Mein Vater wollte mich auf die Militärakademie schicken, das habe ich verweigert, und da meldete er mich für die Justizwacheschule an. Begonnen habe ich in der Justizanstalt Wien-Josefstadt, immer wieder wollte ich aufhören. Aber dann habe ich mein Jus-Studium begonnen.

STANDARD: Sie wollten doch Sportreporter werden?

Timm: Als Bub. Auf der Wiese da draußen habe ich Fußball gespielt.

STANDARD: Verwandt mit Christian Timm von Borussia Dortmund?

Timm: Ich weiß nicht, der Name Timm kommt jedenfalls aus Nord-Deutschland, wie mein Großvater.

STANDARD: Es gibt sogar einen Mount Timmia, benannt nach Botaniker Joachim Timm, hat im 18. Jahrhundert gelebt.

Timm: Wusste ich gar nicht. Bei Timms gibt es Maler, Fußballer, und (lacht) Direktoren von Justizanstalten.

STANDARD: Sie sind jetzt seit genau drei Jahren Chef hier. Sind Sie stolz drauf, den Job bekommen zu haben?

Timm: Auch stolz, aber darum geht es nicht. Chef in der Legenden umrankten Justizanstalt Stein zu sein, ist im Strafvollzug aber schon die Position schlechthin.

STANDARD: Obwohl sie nur die zweitgrößte Anstalt ist: Wien-Josefstadt, das Graue Haus, ist mit mehr als tausend Insassen noch größer.

Timm: Ja, hat aber eine andere Funktion; die Josefstadt als größtes Zentrum für Untersuchungshäftlinge teilt die Insassen nach ihrer Verurteilung auf ganz Österreich auf, ist quasi Zulieferer für die anderen Justizanstalten. Ohne die sehr gute Leistung der Kollegen dort schmälern zu wollen: Der echte Strafvollzug findet in Anstalten wie Stein statt. Wir haben alle hier, vom geistig Beeinträchtigten bis zum Universitätsprofessor. Wobei wir derzeit keinen Professor haben.

STANDARD: Sie wurden mit 37 Jahren jüngster Gefängnischef Österreichs, als Direktor in Wien-Simmering. Da sitzen zum Beispiel Leute, die schwere Verkehrsunfälle verschuldet haben. Ein leichterer Job dort?

Timm: Ein anderer. Bei Leuten, die zu kürzeren Haftstrafen verurteilt werden, geht es darum, bestehende soziale Settings, Anbindungen aufrecht zu erhalten. Die soll man nicht unterbrechen.

STANDARD: Der Terrorist von der Gruppe Abu Nidal, der 1985 beim Anschlag auf den El-Al-Schalter am Flughafen Wien dabei war, sitzt ja lebenslang bei Ihnen.

Timm: Ja, er hat aber eine Strafe dazu bekommen. Denn er saß in Graz-Karlau, war dort bei einer Geiselnahme dabei, wurde erneut verurteilt und ist jetzt in Stein.

STANDARD: An der Geiselnahme in Graz hat auch der berüchtigte Adolf Schandl teilgenommen, der 1971 nach einer Geiselnahme aus Stein geflohen ist und den der Wiener Polizeipräsident Josef Holaubek dann mit den Worten ansprach: "I bin's, dei Präsident." Schandl ist jetzt 75; seine Haft endet 2027. Da ist er dann 91 Jahre alt.

Timm: Ja. Wobei: Schandl ist jetzt in Garsten inhaftiert.

STANDARD: Sie gelten als kritischer Verfechter des liberalen Strafvollzugs. An dem sei "gar nichts rosig", sagen Sie. Die Zustände in Gefängnissen sind aber doch katastrophal?

Timm: Ich sehe das nicht so, aber sicher muss man viel verbessern. Ich will den Leuten draußen sagen, wie's im Strafvollzug läuft. Sie glauben, man soll Straftäter möglichst lang in Isolationshaft wegsperren, ihnen jeden Tag ihre Tat vorhalten. Sie stellen sich vor, da gibt es den großen Trichter, in den oben die Bösen reinkommen, dann schwerer Kerker, und unten kommen alle geläutert raus. Ein großer Irrglaube.

STANDARD: Strafrechtsprofessor Peter Bertel sagt, Haft über fünf Jahre ruiniere Menschen.

Timm: Hundertprozentig kann ich mich dem nicht anschließen. Ich habe in Stein gelernt, dass es Menschen gibt, wenn auch wenige, die so gefährlich und unbehandelbar sind, dass man sie nicht auf die Menschheit loslassen kann.

STANDARD: Wie viele sind das hier?

Timm: So vierzig, fünfzig. Aber jeder, der will, bekommt Therapie und Unterstützung. Aber diese Klischees von den bösen Monstern, die man hinter hohen Mauern absondern muss, die sind lächerlich, die bekämpfe ich.

STANDARD: Wie?

Timm: Etwa mit Führungen für die Angehörigen unserer Mitarbeiter, damit sie wissen, wie's hier läuft. Die wundern sich dann oft, dass die Insassen Messer haben – aber bei uns haben alle Messer. Auch im Hochsicherheitsgefängnis Stein isst man mit Messer und Gabel, wie sonst? Nur eine Handvoll Häftlinge muss das Besteck nach dem Essen zurückgeben, und wer akut suizidgefährdet ist, bekommt nur einen Löffel fürs Kartoffelpüree. Oft fragen mich die Besucher auch: "Wozu braucht ein Häftling eine Bratpfanne?" Zum Kochen, weil er in einer betreuten Wohngruppe lebt.

STANDARD: Rund die Hälfte Ihrer Häftlinge lebt in Wohngruppen, wie schaut's dort aus?

Timm: So eine Gruppe besteht aus rund dreißig Insassen plus Betreuern; jeder hat seinen Haftraum, aber es gibt auch Gemeinschaftsräume, Kochgelegenheiten. Da wird gewaschen, geputzt, gekocht. Wie draußen.

STANDARD: Mir fällt auf, Sie haben hier im Büro viel mit Stein-Bezug: Fotos von Steinen, unterm Besprechungstisch Steinboden. Da haben Sie sich beim Amtsantritt vor drei Jahren blamiert: Ihr Büro-Umbau kostete 60.000 Euro.

Timm: 67.000 Euro. Da habe ich einen Fehler gemacht. Und ja, ich habe etwas über für Stein und Steine, sonst wäre ich nicht da. Stein, das steht ja vielen für einen Zustand, nicht für einen Ort. Die Insassen nennen die Anstalt "Fösn" (Felsen; Anm.), nicht nur, weil dahinter der Berg beginnt.

STANDARD: Sind Kriminelle betroffen oder stolz, wenn Sie da landen?

Timm: Die meisten betroffen. Ein paar sind froh, weil es hier für 95 Prozent der Insassen Arbeit gibt.

STANDARD: Und wer ist stolz?

Timm: Schwerstkriminelle, die sogar ich als aussichtslose Fälle bezeichnen würde.

STANDARD: Wie wird man so?

Timm: Zum Teil wird einem das in die Wiege gelegt. Der Mensch ist zwar frei in seinen Entscheidungen, aber der Entscheidungsspielraum ist je nach Umständen, in die man geboren wird, unterschiedlich groß. Oft geht es um angeborene oder erworbene Krankheiten, Sexualstraftäter wurden meist selbst missbraucht.

STANDARD: Aber es gibt Menschen, die einfach Böses tun wollen, oder?

Timm: Ganz wenige. Ein paar habe ich kennengelernt, die meisten von ihnen haben sexuell motivierte Tötungsdelikte begangen. Zynische Leute meistens.

STANDARD: Also kluge Menschen.

Timm: Das macht ihre Gefährlichkeit aus. Anthony Hopkins, einer meiner Lieblingsschauspieler ...

STANDARD: Sagen Sie nicht, "Das Schweigen der Lämmer" sei Ihr Lieblingsfilm ...

Timm: Einer meiner Lieblingsfilme. Aber klischeefern gehe ich auch ins Theater und höre gern Musik. Also: Hopkins bringt das in dem Film bestens zum Ausdruck. Leute ähnlicher Kategorie kenne ich, und sie gehören zu den ganz wenigen, die man besser für immer aus dem Verkehr zieht. Und das ist keine bedenkliche Haltung von mir, sondern die Realität.

STANDARD: Steckt das Böse in jedem von uns, um es banal zu fragen?

Timm: Die Sache mit der "Bestie Mensch" ist etwas platt. Aber in bestimmten Situationen kann jeder zum Täter werden. Es kommt auch auf die Definition "Verbrechen" an, in der NS-Zeit wurde man verurteilt, wenn man fremde Sender hörte, lange wurden Homosexuelle und Ehebrecher kriminalisiert.

STANDARD: Bis zu Brodas Strafrechtsreform 1975.

Timm: Ja, und so gesehen kann jeder zum Verbrecher werden. Wir hier ächten die Tat, aber achten den Täter – sonst könnten wir die Insassen und unsere Arbeit nicht ertragen. Ich darf mich nicht zum Richter aufspielen, ich bin kein Richter. Und auch ich mache ja Fehler.

STANDARD: Sie werden ja sehr oft angezeigt von Gefangenen.

Timm: Stimmt. Zum Teil wollen mich Leute, die unbedingt aus Stein weg wollen, so unter Druck setzen. Ich lasse mich aber nicht unter Druck setzen. Auch ich bin von harter Gesteinssorte.

STANDARD: Der Mann aus Stein ...

Timm: Ja, ich bin in Stein geboren, ein paar hundert Meter von hier. Und als Direktor einer monokratischen Organisation bin ich der Blitzableiter für alle: Insassen, Journalisten, Mitarbeiter. Wenn die Klospülung nicht funktioniert, bin auch ich schuld.

STANDARD: Apropos. Die Gefängnisküche steht wegen der schlechten Kanäle oft unter Klo-Abwasser, wurde die schon umgebaut?

Timm: Scheitert derzeit an der Kleinigkeit von acht Millionen Euro.

STANDARD: Was täten denn Sie den ganzen Tag, wenn Sie eingesperrt wären?

Timm: Ich würde nachdenken und alle Möglichkeiten nützen, die man mir an Beschäftigung und Therapie bietet. Ich würde lernen, versuchen zu studieren.

STANDARD: Ex-Stein-Insasse Tibor Foco ist beim Ausgang zur Vorlesung geflohen und nie mehr aufgetaucht. Haben Sie derzeit Studenten unter den Häftlingen?

Timm: Niemanden, der ein echtes Studium macht. Bringt für wen, der in Stein sitzt, nicht viel, zum Beispiel ein Lehramtsstudium zu beginnen. Ich hätte auch Foco sein Studium nicht erlaubt. Warum soll ein zu Lebenslang Verurteilter ein Jus-Studium beginnen? Bei aller Übereinstimmung mit meinem Vorgänger Karl Schreiner: Ich hätte das nicht zugelassen.

STANDARD: Ein Anwalt sagte mir unlängst, ihm sei jeder Dieb lieber als ein Wirtschaftskrimineller. Ihnen auch?

Timm: Insofern, als zum Beispiel Diebe Interventionen im Strafvollzug zugänglicher sind als betrügerisch Veranlagte. Die sind meist völlig von ihrer Unschuld überzeugt.

STANDARD: Weil sie auf sich selbst reinfallen?

Timm: Weil sie ihre Tat nicht als Delikt sehen.

STANDARD: Helmut Elsner, der in Stein landen könnte, fühlt sich nach vier Jahren U-Haft noch mehr als Opfer als bei seiner Festnahme. Da bringt Haft doch gar nichts?

Timm: Herrn Elsner kenne ich nicht. Aber Wirtschaftsstraftäter entwickeln oft einen Abwehrmechanismus, um die Realität nicht heranzulassen. Sie bauen eine Fassade auf, an die sie selbst glauben. Da dient Haft nur dem Schutz der Öffentlichkeit und der Abschreckung.

STANDARD: Wie überstehen solche Leute Haftstrafen?

Timm: Schlecht. Ich meine es nicht sadistisch, aber: Die Haft erfüllt bei ihnen nur den Zweck, dass sie ihnen wirklich weh tut. So jemand lernt zwar nichts, aber er leidet extrem.

STANDARD: Ihr Vorgänger Karl Schreiner meinte, man könne schon froh sein, wenn einer, der als Räuber ins Gefängnis kam, als Dieb rausgeht.

Timm: Haft kann keine Wunder wirken. Besser wird niemand im Gefängnis, höchstens anders.

STANDARD: Ein Kollege von Ihnen sagt, er erkenne einen Betrüger nach dessen erstem Satz. Das klingt sehr voreingenommen.

Timm: Nicht unbedingt. Ich trau' mir auch zu, nach fünf Minuten zu wissen, wen ich ungefähr vor mir habe. Betrüger sind auch im Gefängnis sehr zuvorkommend, äußerst gepflegt, legen Wert auf Dialog mit für sie akzeptablen Persönlichkeiten. Sie drängen in Bereiche, wo man gut landen kann. Bei uns etwa in die Küche, wo für die Beamten gekocht wird, oder zu Führungen. Da sagen mir die Besucher, oft Psychologen und Strafrechtler: "Sie haben wunderbare Mitarbeiter", und ich sage: "Ja, das ist auch ein Mitarbeiter, aber das ist der Gefangene." Und richtige Betrüger tun auch im Gefängnis weiter: Sie bringen prominenteste Menschen dazu, mit Ihnen zu korrespondieren, ihre Geschichten zu glauben, Geld zu spenden.

STANDARD: Das Wort Verbrecher verwenden Sie nie. Warum nicht?

Timm: Nein, Verbrecher sage ich nie, das ist mir schon lautmalerisch zu deftig. Verrbrrecherrr: Das Wort überlasse ich denen, die den schweren Kerker fordern.

STANDARD: Apropos: Als der Mörder Jack Unterweger bedingt aus Stein entlassen wurde, bevor er dann Serienmörder wurde, sagte der damalige Stein-Chef Schreiner: "Einen so gut auf die Freiheit vorbereiteten Mörder finden wir nie mehr wieder."

Timm: Ja, aber man hat den falschen Mörder vorbereitet. Ich glaube, heute würde einer wie er nicht vorzeitig freigelassen werden.

STANDARD: Tun Ihnen manche Häftlinge auch leid?

Timm: Nein, wäre es so, befände ich mich auf der Überholspur zum Dilettantismus. Dem Arzt kann auch nicht jeder Patient leid tun, da wär' er tot, der Arzt.

STANDARD: Gibt es eigentlich so etwas wie anständige Kriminelle?

Timm: Ja, wenn man damit die meint, die ihre Taten eingestehen, sich hier einfügen und mittun. Aber ihr Anteil nimmt ab. Doch das ist ja in der Gesellschaft draußen genau so, die gibt ihre Verantwortung auch immer mehr ab. Die Leute engagieren, exponieren sich nicht mehr, tauchen durch, gehen den opportunistischen Weg. Bloß nicht für etwas stehen, bloß keine klaren Ansagen. (Sein Handy läutet.)

STANDARD: Oh, Sie haben die Kennmelodie von "Monk" als Klingelton.

Timm: Ja: "It's a jungle out there."

STANDARD: Worum geht's im Leben?

Timm: Mir geht es darum, einen Beitrag zur Sicherheit Österreichs zu leisten und dazu, dass es meinem Sohn und meiner Frau gut geht. Es geht um Sinnerfüllung. Und ja, es geht um Freiheit.

(Langfassung des Interviews; DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29./30.1.2011)