Volker Perthes ist Politikwissenschaftler (unter anderem mit Schwerpunk "Politischer Wandel im Nahen und Mittleren Osten") und seit 2005 Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

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Die "Palileaks", die Veröffentlichungen des arabischen TV-Senders Al Jazeera über die Bereitschaft palästinensischer Unterhändler zu Zugeständnissen an Israel, haben die Palästinenserführung in Verlegenheit gebracht. Die im Gazastreifen herrschende radikalislamische Hamas-Organisation wirft der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas vor, mit Israel zu kollaborieren und wirft ihr "Verrat" vor. Wie weit Abbas‘ Behörde in Erklärungsnot geraten, die Veröffentlichung ihm allerdings gleichzeitig weiterhelfen und warum Israel fortan mit der eigenen Regierung härter ins Gericht gehen könnte, sagt Politikwissenschafter und Nahost-Experte Volker Perthes im derStandard.at-Interview.

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derStandart.at: Der Guardian, dem Al Jazeera die Protokolle zugespielt hat, nennt sie die "größte Enthüllung von Geheimdokumenten in der Geschichte des Nahost-Konflikts". Schätzen Sie die neuen Dokumente auch so sensationell ein?

Volker Perthes: Für derart sensationell halte ich sie nicht. Dass verhandelt worden ist und dass von der palästinensischen Seite in Verhandlungen Optionen getestet worden sind, die in der Öffentlichkeit so nicht dargestellt worden sind, ist schon richtig. Aber auch für Palästinenser, die die Verhandlungen verfolgt haben, sind die Dokumente wohl selbst gar nicht so überraschend.

Sie entsprechen schließlich auch dem, was zum Teil schon 2000 in Camp David in den Clinton-Parametern vorgekommen ist (Camp David ist der Sommersitz der US-Präsidenten in Frederick County, Maryland. 2000 fand dort ein Nahost-Friedensgipfel zwischen US-Präsident Bill Clinton, PLO-Chef Jassir Arafat und dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak statt, der an den Grundsatzfragen - Zukunft Ost-Jerusalems, die Grenzziehung und die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge - scheiterte, Anm.). Zentrale Aussage der Clinton-Parameter war, dass das, was heute jüdisch besiedelt ist, Teil des Staates Israel sein, und was heute palästinensisch-arabisch besiedelt ist, Teil eines Staates Palästina sein soll.

derStandard.at: Sie halten es also für möglich, dass die palästinensische Seite wesentlich weitreichendere Zugeständnisse an Israel gemacht hat als bislang bekannt? Und dass Israel dieses Angebot verworfen hat?

Volker Perthes: Ja. Das sind schließlich nicht fertige Papiere, die so unterschrieben hätten werden können, sondern Elemente aus Verhandlungen, wo der eine oder andere Verhandler mitteilt oder andeutet, wie weit er zu gehen bereit ist. Es galt immer eben jenes Prinzip, das die ehemalige Außenministerin Tzipi Livni (von Mai 2006 bis März 2008 Außenministerin unter der Regierung Ehud Olmert, Anm.) noch einmal bestätigt hat: Beschlossen sind die Dinge erst, wenn alles beschlossen ist. Niemand will Konzessionen abgeben, ohne nicht auch selbst dafür Konzessionen einzufahren. Man sieht hier, wie weit die Palästinenser in einzelnen Bereichen zu gehen bereit sind und dass sie auch auch schon bereit dazu gewesen wären, aber offensichtlich nicht das Quid pro quo bekommen haben, das es möglich gemacht hätte, einen Vertrag abzuschließen.

derStandard.at: Die Papiere zeigen, dass mehr Kompromisswillen auf palästinensische Seite vorhanden ist als angenommen?

Volker Perthes: Das ist der wichtige Punkt, den die Dokumente aufzeigen und das wird mittlerweile auch in der israelischen Presse diskutiert: Wenn die Palästinenser so konzessionsbereit waren, wie kommt es dann, dass die israelische Regierung gedacht hat, man hätte auf palästinensischer Seite keinen Partner oder würde zu keiner Einigung kommen mit ihr?

derStandard.at: Nach Angaben eines Beraters des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert, Yaakov Galanti, hätten Israelis und Palästinenser vor gut zwei Jahren fast einen Friedensvertrag unterzeichnet. Olmert habe jedoch ein generelles Recht auf Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge abgelehnt. Wie sehr hängt der Frieden davon, wieviele der auf fünf Millionen Menschen angewachsenen Flüchtlings-Nachkommenschaft im jüdischen Staat aufgenommen werden?

Volker Perthes: Das ist nicht der Knackpunkt, und das wissen die Palästinenser auch. Sie wissen, dass im Falle einer Friedenslösung auf dem Prinzip der Zweistaaten, die nebeneinander existieren, die physische Rückkehr von palästinensischen Flüchtlingen und Vertriebenen im Exil beziehungsweise deren Nachkommen in den Staat Israel sehr, sehr begrenzt sein wird. In allen "Blaupausen" für ein mögliches Friedensabkommen wird nur von einer sehr geringen Anzahl an Flüchtlingen gesprochen, die dann tatsächlich nach Israel zurückkommen.

Auch das ist ja unter anderem in Camp David angesprochen worden: Dass palästinensische Flüchtlingen aus dem Libanon, Syrien und anderen Staaten frei sein würden, in einen zukünftigen Staat Palästina zurückzukehren, aber nicht unbedingt an die Orte, aus denen ihre Eltern oder Großeltern 1948 oder 1967 vertrieben worden oder geflohen sind.

derStandard.at: Hamas-Sprecher Osama Hamden sagte am Montag gegenüber Al-Dschasira, die Verhandlungsführer der Palästinenser hätten ihr eigenes Volk betrogen. Wie weit vertiefen die Dokumente den Spalt zwischen den ohnehin verfeindeten Palästinenserfraktionen Hamas und Fatah?

Volker Perthes: Der Spalt ist schon so groß, dass er ohnehin kaum vergrößert werden kann. Es wird sicherlich nicht dazu beitragen, dass es schnell zu neuen Versöhnungsgesprächen zwischen ihnen kommt.

derStandard.at: Was für Folgen hat das für Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas?

Volker Perthes: Für Abbas wird es kurzfristig schwierig sein, weil man ihm in der palästinensischen Öffentlichkeit vorwerfen wird, dass er in den Verhandlungen mit Israel zu weich gewesen ist und dass er mit der eigenen Bevölkerung nicht gut kommuniziert hat. International, vor allem in Israel, kann es ihm eher nützen, weil es zeigt, dass er doch ein konzessionsbereiter palästinensischer Führer ist, der offensichtlich großes Interesse daran hatte, ein Abkommen mit den Israelis zu ermöglichen. Das wird auch die Frage aufwerfen, warum Olmert damals (Ehud Olmert, Premierminister von Mai 2006 bis März 2009, Anm.) und Netanyahu heute (Benjamin Netanyahu, seit März 2009 Premierminister, Anm.) nicht in der Lage oder bereit dazu sind, mit diesem Palästinenser-Chef Frieden zu schließen.

derStandard.at: Die Hamas ruft Palästinenser in aller Welt zu Protesten gegen die Palästinenserführung auf, weil sie die Palästinenserinteressen an Israel und die USA verkauft habe. Die Fatah hat der Palästinenserführung schon früher vorgeworfen, zu kompromissbereit und schwach gegenüber Israel zu sein. Wird der interne Druck auf Abbas größer werden?

Volker Perthes: Abbas ist zur Zeit relativ populär, was auch daran liegt, dass die wirtschaftliche Lage in den palästinensischen Gebieten etwas besser geworden ist und es mehr Bewegungsfreiheit gibt. Das ist natürlich - und das wissen die Palästinenser auch - ein Ergebnis der Zusammenarbeit mit Israel. Es wird schon Demonstrationen geben von der politischen Opposition und sie wird damit auch Punkte machen. Wenn das Ganze aber dazu führt, dass die internationale Gemeinschaft - die USA und die Europäer - Abbas deutliche Unterstützung zusagen, wenn er sich mehr bereit dazu zeigt, Frieden zu schließen, dann muss das Abbas langfristig nicht schaden. Das kann im Gegenteil dazu beitragen, dass mehr öffentlicher Druck auf die Regierung Netanyahus ausgeübt wird, mit diesem palästinensischen Präsidenten den Frieden zu suchen und nicht auf seinen Nachfolger zu warten.

derStandard.at: Die Friedensverhandlungen sind also nicht "tot", wie Hamas-Sprecher Osama Hamden sagt, sondern könnten sogar neue Impulse bekommen?

Volker Perthes: Nein, wenn es neue Verhandlungen geben wird, wird die israelische Öffentlichkeit etwas kritischer gegenüber ihrer Regierung sein und nicht mehr jede Behauptung glauben, wonach man keinen palästinensischen Verhandlungspartner habe. Es könnte also wesentlich mehr internationalen Druck auf Israel geben, sich ähnlich dem zu bewegen, wie sich die Palästinenserführung offensichtlich bewegt hat.

derStandard.at: Abbas zeigte sich "überrascht" über die Dokumente und bemüht sich um Schadensbegrenzung. Andere Mitglieder der Regierung werfen Al Jazeera vor, mit der Veröffentlichung ganz bestimmte politische Ziele zu verfolgen und einige Informationen absichtlich aus dem Kontext gerissen zu haben, um gegen die Autonomiebehörde zu hetzen. Glauben Sie, dass Al Jazeera die palästinensische Führung schwächen wollte?

Volker Perthes: Es gibt schon eine handfeste Gegnerschaft zwischen Al Jazeera und der palästinensischen Führung um Abbas. Al Jazeera ist sicherlich der Hamas näher, aber gleichzeitig gibt es auch so etwas wie das Interesse an einem journalistischem Coup, den man gerne landen will, indem man bestimmte Dokumente auf den Markt wirft.

derStandard.at: Warum sollte Al Jazeera die palästinensische Führung an den Pranger stellen wollen?

Volker Perthes: Al Jazeera hat insgesamt die Tendenz oder das Interesse daran, die Herrschenden in der arabischen Welt, zu denen gewissermaßen Mahmud Abbas in den palästinensischen Gebieten gehört, bloßzustellen. Das ist gewissermaßen eine populistische Agenda, zu sagen: Schaut doch mal, was sie hinter verschlossenen Türen tun; das ist nicht dasselbe, wie sie euch in der Öffentlichkeit sagen. Und es stimmt ja auch. Wobei man hier natürlich schon anmerken muss, dass kein Politiker - auch kein Israeli und kein Amerikaner - in öffentlichen Reden immer das preisgibt, was er in Verhandlungen austestet. (fin, derStandard.at, 26.1.2011)