"Jedes transnationale Unternehmen ist eine Parallelgesellschaft" , sagt Mark Terkessidis. Er plädiert dafür, dass sich Städte auf die Vielheit der "Parapolis" einstellen.

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STANDARD: Sie haben 2006 in dem offenen Brief "Gerechtigkeit für Muslime!" in der "Zeit" gemeinsam mit 60 Forschern mehr Wissenschaftlichkeit im öffentlichen Migrationsdiskurs gefordert. Hat sich seither irgendwas geändert?

Terkessidis: Ja und nein. Zunächst wollten wir sagen: Die Politik stützt sich häufig auf Informationen, die nicht seriös sind. Danach hat sich insofern etwas verändert, als überprüft wurde, wie es um den Expertenstatus bestimmter Leute bestellt ist. Im Migrationsdiskurs werden durchaus mehr Fragen gestellt. Zuletzt war die Ablehnung von Thilo Sarrazins Thesen gerade im politischen Spektrum hoch. Auf der anderen Seite stößt Migration als Skandalthema immer wieder auf breites Medieninteresse. Über Sarrazins teilweise bizarre Aussagen wurde viel diskutiert, und was er sagt, stößt in den traditionell privilegierten Schichten auf Widerhall.

STANDARD: Sollten Integrationsforscher vehementer in der Öffentlichkeit auftreten?

Terkessidis: Auf jeden Fall. Es gibt an den Universitäten eine instrumentelle Forschung, die dem Staat hilft, die "Problemgruppen" zu identifizieren. Die alternativen Forschungsansätze schaffen es dagegen kaum, sich professionell in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Aber das ist auch nicht leicht. Sarrazins Provokationen kommen in den Medien besser an als etwa eine differenzierte Untersuchung über subjektive Qualitäten der Religiosität unter Muslimen.

STANDARD: In Ihrem aktuellen Buch "Interkultur" fordern Sie eine Abkehr vom gängigen Integrationskonzept. Was läuft falsch damit?

Terkessidis: Es ist seltsam, dass man im Jahr 2000 angefangen hat, die neueren gesellschaftlichen Entwicklungen mithilfe eines Integrationsbegriffs zu fassen, der aus den 1970er-Jahren stammt. Damit meine ich den herrschenden Begriff, der besagt: Es gibt eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die hinzugekommen ist, und die hat ganz bestimmte Defizite – wobei die wahrgenommenen Defizite seit 30 Jahren gleichgeblieben sind: Es geht nur um Sprachprobleme, patriarchale Familienverhältnisse, Ghettobildung.

STANDARD: Sie fordern eine radikale interkulturelle Öffnung aller Institutionen. Was verstehen Sie darunter?

Terkessidis: Mein Konzept zielt darauf ab, sich nicht die Leute und deren Defizite anzuschauen, sondern die Institutionen, und danach zu fragen, ob sie der neuen Vielfalt der Gesellschaft – unterschiedliche Individuen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichen Hintergründen – gerecht werden. Die Zahlen, was deutsche Städte betrifft, sind atemberaubend: In Frankfurt haben 68 Prozent der Kinder unter sechs Jahren Migrationshintergrund, in Nürnberg 66. Kinder kommen in die Schule und haben unterschiedliche Sprachniveaus, so what? Da muss eben der Regelbetrieb neu justiert werden. Es gibt Konzepte dafür, wie man auch so den Spracherwerb organisieren kann, aber zurzeit fehlt der politische Wille, sich für diese Vielfalt zu öffnen.

STANDARD: Sie sprechen von Parapolis als neuem Raumkonzept. Was meinen Sie damit?

Terkessidis: Wenn man über die Einwanderungsgesellschaft redet, muss man zwangsläufig die Städte als Fokus nehmen, weil Einwanderung zum Großteil ein urbanes Phänomen ist. Das Konzept Parapolis beschäftigt sich damit, dass sich in den Städten in zunehmenden Maße Leute aufhalten, die in einem uneindeutigen Zustand leben. Es gibt "Ausländer" , also Leute, die keine Staatsangehörigen sind, sich aber oft sehr lange an einem Ort aufhalten; es gibt Pendler aus aller Welt, die jeweils ein halbes Jahr in die Stadt kommen; Studenten, mengenweise Expatriates. Im Grunde ist ja jedes transnationale Unternehmen eine Parallelgesellschaft. Bei Nokia oder Ford wird auch kein Deutsch gesprochen: Menschen jeglicher Herkunft sind an einem Ort versammelt, der viel weniger in der Nachbarschaft einer Stadt funktioniert als in einem globalen Kommunikationsraum. Wenn man all das berücksichtigt, kann man nicht auf Einheit, Einigkeit und Integration pochen – die Stadt ist in den Tagen von neoliberalen Strukturen viel weniger kontrollierbar. Aus Großbritannien wissen wir, dass Städte wie Manchester, die sich auf die Vielfalt eingestellt haben, besser mit dem Strukturwandel fertiggeworden sind als jene, die es nicht getan haben, wie etwa Sheffield.

STANDARD: Wie geht der Wandel zu mehr Interkultur vonstatten?

Terkessidis: Es geht auch um das Bild einer Stadt. Es ist immer wieder überraschend, dass deutsche und österreichischen Städte in ihrem "Branding" die Vielfalt nie als positives Merkmal ausstellen. Was die öffentlichen Institutionen betrifft, können Diversity-Konzepte, wie man sie aus Unternehmen kennt, die Organisationskultur und strukturelle Routinen verändern. Mit anonymisierten Bewerbungsverfahren und proaktivem Anwerben von Menschen mit Migrationshintergrund verändert sich der Personalbestand, und die Einrichtungen rücken näher an die neue Bevölkerungsstruktur heran.

STANDARD: Wie zuversichtlich sind Sie, was die Umsetzung betrifft?

Terkessidis: Ich bin zuversichtlicher als vor zehn Jahren, weil ich finde, dass die Dinge in Bewegung gekommen sind, das hat auch die Sarrazin-Debatte gezeigt. Da ist ein richtiger Kampf im Gange dieser Tage, aber die Einwanderungsgesellschaft ist halt keine gemütliche Angelegenheit. Aber die gut Ausgebildeten mit Migrationshintergrund müssen sich stärker in die Öffentlichkeit dafür einsetzen, dass sich etwas ändert. (DER STANDARD, Printausgabe, 26.01.2011)

Wissen: Transnationale Räume erkunden

Im Zuge weltweiter Migrationsbewegungen werden Nationalstaaten zunehmend infrage gestellt. Transnationale Räume entstehen, in denen sich verschiedene Kulturen verflechten – was auch die kulturwissenschaftliche Forschung beschäftigt. Beim Workshop "Kommunikation im transnationalen Raum" , organisiert vom Institut für Ostasienwissenschaften und der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaften der Uni Wien, wurden Ende vergangener Woche auch erste Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsprojekts "Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität" in Buchform präsentiert. Bis 15. März läuft noch die Einreichfrist für den heurigen Dissertationspreis für Migrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Das Siegerprojekt wird mit 3700 Euro belohnt. (kri)