Existenzielles Leiden: Marlis Petersen als Violetta. Dahinter (v. li.): Kristina Antonie Fehrs (Flora), Taylan Memioglu (Gastone), Giuseppe Varano (Alfredo) und Ivan Orescanin (Baron Douphol)

Foto: Kmetitsch

 

Graz - "Die vom Weg Abgekommene": Unter diesem Titel will Peter Konwitschny die Geschichte von Verdis La Traviata erzählen. Der Regisseur, einst angefeindet, jetzt weithin anerkannt, ist seinem Weg indes treu geblieben. Die Art und Weise, wie er seine Sicht der Handlung im Programmheft erläutert, macht dies noch ein wenig klarer als seine Regie.

Die Verantwortung für das Schicksal der "Supernutte" (Konwitschny) trägt eine Pariser Gesellschaft, die sich "hauptsächlich am Sterben dieser Frau aufrichtet". Da aber auch die Besucher einer Oper Teil einer Gesellschaft sind, die jener auf der Bühne ähnelt, hat Theater in der Brecht'schen Tradition die Aufgabe, mit Illusionen zu brechen.

Die einschlägigen Mittel beherrscht Konwitschny virtuos - egal ob er dezent, aber deutlich die Requisiten als solche kenntlich macht oder die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum aufhebt. Beides sind freilich gewohnte Kunstgriffe, die kaum noch aufregen oder irritieren und damit auch etwas von ihrer ursprünglichen Funktion eingebüßt haben.

Andererseits sind gerade die Illusionen, denen sich die Figuren in La Traviata hingeben, denkbar geeignet für eine Brechung, sei es die Rauschsucht der Gesellschaft oder sei es der wider besseres Wissen heraufbeschworene Traum des Liebespaares von einer gemeinsamen Zukunft. Selbst die auskomponierte Verklärung der Kameliendame, welche den Rahmen für die ganze Oper bildet, ließe sich als illusorisch interpretieren. Genügend Ansatzpunkte also für Verfremdung - vom Rahmen für das Ganze bis zu szenischen Details wie denselben leeren Sektgläsern, mit denen sich schon andere Bühnenkollektive Konwitschnys betrunken haben.

Doppelter Theaterboden

Nicht weit hergeholt, aber wirksam ist der doppelte Theaterboden, der mit einfachen Mitteln erreicht wird. In der Ausstattung von Johannes Leiacker ist Violettas Kleid aus demselben Stoff wie der Vorhang, der zur wichtigsten Kulisse nobilitiert wird. Während sich in der Ouvertüre der Vorhang hebt, wird im Hintergrund ein zweiter sichtbar, durch den wiederum ein Gros der Auftritte stattfindet. Am Ende der Oper werden beide Stoffbahnen verschwunden sein, werden Violetta und Alfredo verzweifelt versuchen, einen imaginären Vorhang zuzuziehen.

Nachdem dies misslingt, flüchtet der Geliebte über die Logenbrüstung in den Zuschauerraum, von wo aus bereits die anderen Figuren Violettas Sterben verfolgen: hier ihr Entschwinden im leeren Bühnendunkel.

Die Entwicklung bis dahin ist längst vorgezeichnet. Wenn schon bei Verdi die Handlung auf unausweichlicher Schiene verläuft, verschärft Konwitschny diesen Zug noch, indem Adolfo seiner Violetta die Liebesmetaphern am Ende des ersten Bildes vom Zuschauerraum aus in Richtung Bühne entgegenschmettert.

Dort steht nun in jeder Hinsicht das Kraftzentrum der Aufführung: Marlis Petersen verbindet existenzielles Leiden mit exzellentem Gesang und beherrscht einen intimen Tonfall ebenso wie mit unerschöpflichen Reserven erfüllte Dramatik. Ebenbürtiges findet sich im restlichen Ensemble zwar nicht, doch herrscht auch hier Gleichgewicht zwischen musikalischem Ausdruck und Szene.

Auch wenn man den Giorgio Germont weniger zurückhaltend anlegen könnte als James Rutherford, auch wenn Giuseppe Varano als Alfredo ein wenig zu kämpfen hat, macht gerade das seine Figur plastisch. Auch wenn sich eine musikalische Mängelliste erstellen ließe: Der große Zug stimmt. Dafür sorgt Dirigent Tecwyn Evans, der seine Einstudierung unter das Vorzeichen der Zuspitzung gestellt hat. Begleitfiguren lässt er messerscharf hervorheben, Nebenlinien des gut aufgestellten Chores an Eigenleben gewinnen, Lyrisches klingt spontan und elastisch.

Das Premierenpublikum reagierte mit ungetrübtem Jubel und Begeisterung. Ein frommer Wunsch könnte sein, dass es sich hier nicht bloß um einen Gewöhnungseffekt handelt, sondern um tatsächliche Offenheit. Die müsste dann aber heute bereits auch der nächsten Generation gelten und nicht bloß dem Etablierten. (Daniel Ender/ DER STANDARD, Printausgabe, 24.1.2011)