"Ich werfe meine Netze aus. Wenn ich sie wieder ins Boot hole, sind sie voller Geschichten."

Zur Person:
Catalin Dorian Florescu (43), geboren in Timisoara in Rumänien, floh 1982 mit den Eltern in den Westen. Er studierte in Zürich Psychologie und arbeitete sechs Jahre als Psychotherapeut mit Drogenabhängigen. Seit 2001 lebt er als freier Schriftsteller in der Schweiz. 

Florescu beschreibt sich als europäischer Schriftsteller deutscher Sprache. Im Februar erscheint von ihm "Jacob beschließt zu lieben" (Verlag C. H. Beck), wie schon seine Romane "Wunderzeit" (2001), "Der blinde Masseur" (2006) und "Zaira" (2008) tief verwurzelt in den sinnlichen Gegebenheiten des Lebens und seiner rumänischen Heimat.

Foto: C. H. Beck

Florescu sprach mit Koschka Hetzer-Molden über seinen neuen Roman und über Mythen, Legenden und Klischees seiner Heimat.

Standard: In Ihren Romanen geht es sehr sinnlich und erdgebunden zu. Es wird getrunken, geflucht, geliebt, es riecht nach Knoblauch, und der Aberglaube ist weit verbreitet ...

Florescu: ... Dabei bin ich ein Fastabstinenzler. Vater schaffte es, die Süchte von unserer winzigen, schäbigen Plattenbauwohnung in Timisoara fernzuhalten. Meine Mutter musste auf dem Balkon rauchen, da gab sie es schnell auf. Eigentlich hat er in den Siebzigern durchgesetzt, was jetzt überall gesetzlich verankert wurde: Raucher müssen vor die Türe. Vaters privater Krieg gegen die Süchte führte dazu, dass ich kein Raucher oder Trinker wurde, aber ein mindestens genauso getriebener Schriftsteller. Vermutlich sind mir deshalb die Trinker sympathisch. Sie nehmen sich mehr Freiheiten als ich.

Standard: So haben sich viele Menschen im Westen Rumänien vor der Öffnung vorgestellt. Spielen Sie da nicht mit Klischees?

Florescu: Natürlich nicht. So sehe ich starke Literatur: Verwurzelt in den sinnlichen Gegebenheiten des Lebens und diese beschreibend. Was sollen Romane sonst tun, es sei denn, sie reproduzieren literarisch den faulen, hohlen Zeitgeist der Gegenwart? Die Welt riecht, stinkt, sie ist schrill, bunt, laut, intensiv, leidenschaftlich, manchmal unerträglich, ungerecht, kurzum: lebendig. Was für den Westler ein Klischee ist oder skurril, ist dort draußen, in der lebendigen Welt, bittere, tragikomische, tagtägliche Realität. Unsere Städte sind geruchlos, steril, krankenhausreif eigentlich. Begegnung ist eine ritualisierte Form der Freizeitindustrie. Sobald man den Westen verlässt, intensivieren sich die Wahrnehmungen. Mit solch einer Erlebniswelt aus Osteuropa wurde ich durch meine Geburt beschenkt.

Ion etwa, Protagonist meines Romans Der blinde Masseur, Besitzer einer sagenhaften Bibliothek von 30.000 Büchern, isst Zwiebeln und Brot und Speck und trinkt Schnaps, gleichzeitig unterhält er sich über Camus und Heidegger. Aber weder Rumänien noch meine Romane lassen sich auf diese Elemente reduzieren, sie sind nur die Würze in meiner literarischen Suppe. Ich bin froh, dass sich viele Orte der Welt Formen kultureller Eigenständigkeit bewahrt haben. Sie werden nach und nach aussterben, nicht durch die EU, aber wohl durch den alles nivellierenden Konsumkapitalismus. Solange aber sind sie für mein Schreiben reinster Sauerstoff.

Standard: Nach Ihrer Flucht aus Rumänien mit Ihren Eltern vor 30 Jahren ist die Schweiz schon lange Ihr neues Zuhause. Haben Sie zwei "Heimaten" oder eine Heimat und ein Exil?

Florescu: An beiden Orten fehlt ein Teil. In der Schweiz ist es die Kindheit, die prägend ist. Aber ich partizipiere an der Gegenwart der Schweiz, auch wenn das immer schwieriger wird angesichts des Rechtsrutsches der Gesellschaft. In der Schweiz konnte ich mich ohne Angst und Überlebenskampf entfalten. Doch wenn ich Schweizerdeutsch rede, habe ich einen Akzent. Und oft genug stehe ich diesem Menschenschlag befremdet gegenüber. Den Rumänen aber ebenso. Und einen Akzent habe ich auch auf Rumänisch. Dieses Land war gut zu mir, es verstieß mich nicht, nachdem ich es bei der Flucht verließ. Fremd bleibe ich an beiden Orten, es gibt kein Entrinnen vor der Fremdheit. Als Schriftsteller aber weiß ich, dass ich keine nationale Zugehörigkeit habe. Ich bin ein europäischer Schriftsteller deutscher Sprache.

Standard: Wie entstehen Ihre Figuren? Gibt es manche von ihnen wirklich?

Florescu: Ich werfe oft meine Netze aus, im Banat, in Timisoara. Wenn ich sie wieder ins Boot hole, sind sie voller Geschichten. So fand ich darin einmal die Geschichte eines blinden Masseurs, der seit Jahrzehnten Menschen dazu brachte, seine Vorleser zu werden. Er bildete sie, und sie bildeten ihn. Oder jene Zairas, der berühmten Puppenspielerin, die während des Prager Frühlings nach Amerika flüchtete und von dort als alte Frau zu ihrer einstigen großen Liebe zurückkehrt. Ich schäle aus diesen Geschichten die vielen Facetten des Dramas des menschlichen Lebens heraus.

Standard: In Ihren Romanen spielt nicht nur das Überleben eine große Rolle, sondern auch die Fähigkeit zu lieben. Ihre Romanfiguren geben nie auf - so auch im neuen Roman Jacob beschließt zu lieben.

Florescu: In dieser Familiengeschichte, die im18. Jahrhundert in Lothringen beginnt und im Banat unter den Kommunisten endet, geht es um den nie aufhörenden Kampf ums Überleben, um eigenen Grund und Boden. Und darum, dass Zivilisation auf Gewalt gründet. Kaiserin Maria Theresia brauchte Kolonisten als gute Steuerzahler. Sie rief, und Abertausende von Lothringern, Elsässern, Deutschen, Italienern, Österreichern setzten sich in Bewegung, um ihr Glück im Osten zu suchen. Wenn sie die gefährliche Fahrt auf der Donau überlebten, gründeten sie im Banat Dörfer mit Namen wie Liebling, Triebswetter, Gottlob. Damals war die Projektion des Glücks eben dort und nicht, wie heute, im Westen. In diesen Zeiten voller Kriege, Hunger und Ungerechtigkeit behält nur Jacob, der Held des Romans, seine Menschlichkeit und Liebesfähigkeit.

Standard: In alten rumänischen Kochbüchern findet man Speisen 32 verschiedener Ethnien. Gibt es diese Multikulturalität heute noch in Rumänien?

Florescu: Im Banat allein leben Rumänen, Deutsche, Ungarn, Serben, Bulgaren. In Timisoara, meiner Heimatstadt, gibt es Theater, Zeitungen und Schulunterricht in mehreren Sprachen. Die Partei der Ungarn regiert seit 10 Jahren mit. Es gibt orthodoxe und katholische Kirchen, Synagogen und im Osten auch Moscheen. Andererseits sind viele Synagogen verfallen und ebenso die Burgkirchen der Siebenbürger Sachsen wie auch viele ihrer Häuser. Denn sie sind nach Deutschland gezogen. Doch der Bürgermeister von Hermannstadt - Kulturhauptstadt Europas 2007 - ist deutschstämmig, gewählt von Rumänen. Rumänien war ein Land am Kreuzweg vieler Kulturen, Imperien - Habsburger, Türken, Russen - eine lateinische Insel im Slawenmeer. Man lernte zu überleben, entwickelte eine große Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Der Rumäne geht nicht so schnell unter, er improvisiert, schlängelt sich durch, listig und verwegen. Auch Humor war wichtig, nur so hielt man sich ein wenig die Diktatur vom Leib.

Standard: Ihre Leser erfahren viel über eine Welt, die ihnen noch vor 20 Jahren, vor der Revolution, verschlossen war.

Florescu: Rumänien hat eine reiche Kultur, die zu wenig bekannt ist. Erst seit kurzem werden Schriftsteller übersetzt, erhalten Regisseure wichtige Filmpreise. Es gibt in Rumänien die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Das pulsierende, moderne Leben der Städte und nur einige Kilometer entfernt das Landleben, rückständig und arm. Aber auch reich an Legenden, Mythen, Volksliedern. Eines aber ist Rumänien nicht: das düstere Land aus den Büchern von Herta Müller. Manche Menschen lesen sie beinahe schon wie Geschichtsbücher. Dabei steht auf dem Umschlag genauso wie bei mir: Roman. Fiktion also, eine Vision über einen bestimmten Ausschnitt der Realität. Ein schlimmer Ausschnitt, der unschuldige Menschen terrorisiert hat, Rumänen wie Deutsche. Aber das Leben so vieler liebenswürdiger Leute nur darauf zu reduzieren wäre wahrlich ein ziemliches Klischee.

Standard: Sie reisen viel, zurzeit sind Sie "Stadtschreiber" in Baden-Baden. Wie gestalten Sie diese monatelangen Aufenthalte an fremden Orten?

Florescu: Ich bringe mich in das Leben der Stadt ein. Auftritte, Schreiben für die regionale Presse, Begegnungen mit Bürgern der Stadt, Lesungen und Gespräche in Schulen und vieles mehr. Ich gebe meiner Lebenszeit Sinn, auch oder gerade dann, wenn ich wieder einmal literarisch nomadisiere. Es ist mein Rezept gegen die Einsamkeit. (DER STANDARD, Printausgabe, 22./23.1.2011)