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Uno-Flüchtlingskommissar Guterres (rechts) spricht mit Binnenflüchtlingen in einem Camp außerhalb von Galkayo in Somalia. Hunderttausende sind dort geflüchtet

Foto: dapd /Muhumed Malkadir

Uno-Flüchtlingskommissar António Guterres kritisiert im Gespräch mit Julia Raabe die unterschiedlichen Asylpraktiken in der EU und plädiert für bessere Krisenprävention.

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STANDARD: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am Freitag die Abschiebung eines afghanischen Asylwerbers aus Belgien nach Griechenland verurteilt. Wie bewerten Sie den Spruch?

Guterres: Wir haben wiederholt auf die Bedingungen von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Griechenland hingewiesen, die uns Sorge bereiten. Es ist nicht gewährleistet, dass ihnen dort der nötige Schutz gewährt wird. Die Entscheidung erkennt an, dass Asylbewerber nicht nach Griechenland zurückgeschickt werden sollten, solange das ihre Menschenrechte und das Recht auf Asyl verletzen würde - das begrüßen wir. Es wird noch viel Zeit und Ressourcen brauchen, bis es in Griechenland ein funktionierendes System für den Schutz von Flüchtlingen gibt.

STANDARD: Mit der Entscheidung wird auch die Dublin-II-Verordnung der EU in Frage gestellt, nach der Flüchtlinge in jenes Land zurückgeschickt werden, das sie zuerst betreten haben. Was halten Sie von dieser Regelung?

Guterres: Unsere Hauptsorge ist, dass über dieselben Gruppen von Flüchtlingen von Land zu Land unterschiedlich entschieden wird. Beispiel: Die Wahrscheinlichkeit, dass einem Somalier Asyl gewährt wird, rangiert zwischen fast null und 90 Prozent - abhängig vom Land, in dem er ansucht. Mit diesen Unterschieden funktioniert das europäische Asylsystem nicht. Dublin II wurde unter der Voraussetzung geschaffen, dass die Praktiken harmonisiert werden.

STANDARD: Sollte die Dublin-II-Regelung also gestoppt werden, solange die Asylsysteme in Europa nicht vereinheitlicht sind?

Guterres: Nein. Wir befürworten eine Reform der Bestimmungen, und wir haben Länder gebeten, Dublin II nicht für Griechenland anzuwenden.

STANDARD: Griechenland plant einen Zaun an der Grenze zur Türkei, um die Menschen draußen zu halten. Wie finden Sie das?

Guterres: Jedes Land hat zwar das Recht, seine Grenzen zu kontrollieren. Aber ein bedeutender Teil jener Menschen, die dort über die Grenze kommen, fliehen vor Gewalt und Verfolgung. Zäune lindern selten den Migrationsdruck. Asylsuchende weichen womöglich auf noch riskantere Routen aus - ein Grund, warum sich viele Asylsuchende in den Fängen von Menschenschmugglern befinden.

STANDARD: In der politischen Debatte wird oft suggeriert, Europa sei mit einem nie dagewesenen Flüchtlingsansturm konfrontiert.

Guterres: Es ist wichtig, zwischen Migration und Asyl zu unterscheiden. Die meisten Leute, die nach Europa kommen, sind keine Flüchtlinge, sondern Wirtschaftsmigranten, die ein besseres Leben anstreben. Ich respektiere das. Ich komme aus Portugal, in den 60er- und 70er-Jahren sind mehr als 1,5 Millionen Portugiesen emigriert, weil sie in ihrem Land keine Zukunft gesehen haben. Aber Wirtschaftsmigration ist etwas anderes als Flüchtlingsschutz.

STANDARD: Also kein Flüchtlingsansturm auf Europa?

Guterres: Die Zahl der Asylsuchenden in Europa ist relativ stabil geblieben, sie steigt nicht an. Im Jahr 2009 gab es 246.000 Asylanträge in Europa. Doch allein in Südafrika waren es 220.000. Es ist also nicht wahr, dass es einen Flüchtlingsansturm auf Europa gibt - im Gegenteil: Vier Fünftel der Flüchtlinge befinden sich in Entwicklungsländern. Pakistan hat 1,7 Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan, in Jordanien gab es zeitweise über eine Million aus dem Irak, Kenia hat 500.000. Deshalb fordern wir einen neuen Deal über die Lastenverteilung, um diesen Ländern zu helfen.

STANDARD: Wie sollte der aussehen?

Guterres: Bessere Entwicklungszusammenarbeit, Unterstützung für die Gemeinschaften, für die Herkunftsregionen. Für Menschen mit besonders großem Schutzbedürfnis unterstützen wir die Umsiedlung von den Aufnahmeländern in entwickelte Staaten, um einen Schutz zu gewähren, den sie in Kenia, Tansania oder Pakistan vielleicht nicht erhalten. Zum Beispiel Mütter von Kleinkindern, die ihre Männer im Krieg verloren haben, Folteropfer, Behinderte.

STANDARD: Sehen Sie so viel Solidarität vonseiten der reichen Länder - oder geht der Trend nicht eher in die entgegengesetzte Richtung?

Guterres: Das ist unterschiedlich. Es hat viel Unterstützung für Flüchtlingsprogramme gegeben. Aber der Bedarf übersteigt alle Unterstützung. Bessere Entwicklungskooperation in den Ländern wäre sehr hilfreich - um der Bevölkerung zu helfen, aber auch, um ein besseres Umfeld, mehr Möglichkeiten und Eigenständigkeit für die Flüchtlinge zu schaffen.

STANDARD: UNHCR gibt es jetzt seit 60 Jahren. Eine lange Zeit für eine Organisation, die ursprünglich auf drei Jahre angelegt war.

Guterres: Unser Wunsch wäre es, den Betrieb einzustellen. Leider geht der Trend nicht in diese Richtung. Es gibt endlose Konflikte, sehen Sie sich Afghanistan an, Somalia. Zwei Drittel der Menschen, die vertrieben werden, bleiben innerhalb der Grenzen ihres Landes. Sie sind also keine Flüchtlinge, sondern Binnenflüchtlinge. Manchmal können oder wollen ihre Heimatländer sie nicht schützen. Der Unterschied zwischen Wirtschaftsmigranten und Flüchtlingen verschwimmt. Die Megatrends - Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Klimawandel, Lebensmittelsicherheit, Wasserknappheit - vermischen sich. Wir brauchen eine bessere internationale Partnerschaft, um damit fertig zu werden.

STANDARD: Sind Sie in Ihrer Arbeit also Tag für Tag mit den Folgen politischen Versagens konfrontiert?

Guterres: Es ist leider einfacher, die öffentliche Meinung, Medien, Regierungen und Organisationen dazu zu bringen, auf Katastrophen zu reagieren, als sie zu verhindern. In der Krisenprävention ist die Welt erfolglos gewesen. Ich hoffe, dass sich das Bewusstsein durchsetzt, dass es besser ist, Flüchtlingssituationen überhaupt zu vermeiden, als später zu helfen.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Lage in Österreich?

Guterres: Generell hat Österreich ein gut funktionierendes Asylsystem. In den letzten Jahren ist die Asylgesetzgebung aber restriktiver geworden, wie in anderen europäischen Staaten auch, mit mehr Pflichten und weniger Rechten für Asylsuchende.

STANDARD: Österreich gehört zu den Ländern, die Abschiebungen nach Griechenland nicht generell ausgesetzt haben.

Guterres: Österreich hat die Transfers für verwundbare Gruppen gestoppt und, soweit wir wissen, seit November keine Personen mehr nach Griechenland zurückgeschoben. Diesen De-facto-Stopp begrüßen wir - obwohl eine generelle Aussetzung der Rückführungen, wie von Deutschland angekündigt, natürlich unsere bevorzugte Lösung wäre. (Julia Raabe, DER STANDARD Printausgabe, 22./23.1.2011)