Ungewöhnliche Meldung aus dem Jahr 2008: „Fuß im Gehirntumor eines Babys in den USA". Die Ärzte spekulierten, dass es sich bei diesem ungewöhnlichen Fund um einen sogenannten Fetus in Fetus handeln könnte. Dabei entwickelt sich der Zwillingspartner im Körper des anderen Menschen.

„Zwilling" oder „Zwillingsgeschwulst" werden im Volksmund auch Dermoidzysten genannt. Das sind zystische Teratome (Wundergeschwulste, Anm.Red.), die bei Frauen vorzugsweise in den Eierstöcken (Ovarien), bei Männern häufig im Bereich des Steißbeins oder Hodens lokalisiert sind. Nach operativer Entfernung dieser Keimzelltumore, wird manchmal differenziertes Gewebe, wie Haare, Zähne, Knochen- und Knorpelgewebe darin gefunden. Die Vermutung, dass es sich dabei um einen „ verlorenen Zwilling" (vanishing twin) handeln könnte, hat ihnen den Namen „Zwillingsgeschwulst" eingebracht.

Histologische Untersuchung

„Diese Annahme ist abwegig, weil eine Eizelle auch für sich alleine die Entwicklungspotenz besitzt, alle Arten von Geweben auszubilden. Dazu braucht sie kein Spermium", weiß Thomas Stallmach. Leitender Pathologe am Kantonsspital Graubünden in Chur. Per definitionem sind Haare und Zähne in Dermoidzysten also nicht aus der Vereinigung zweier Keimzellen entstanden, der „Zwilling" demnach kein „verlorener" Mensch. Stallmach ergänzt: „Teratome entstehen aus den Keimzellen eines Embryos, die sich während ihrer normalen Wanderschaft „ verirren" und in der falschen Umgebung einen Tumor ausbilden".

Genetische Untersuchungen bestätigen diese Keimversprengungstheorie, jedoch werden Dermoidzysten nicht auf genetisches Material untersucht. Warum? „Was den Pathologen und den Patienten vorrangig interessiert ist, ob es sich um gut- oder bösartiges Gewebe handelt", betont der Schweizer Pathologe.

Esoterischer und pragmatischer Ansatz

Für Esoteriker sind Dermoidzysten jedenfalls ein willkommener Sündenbock, bringen sie doch Einsamkeit, unerklärliche Schuldgefühle und unerfüllte Sehnsüchte unter anderem mit „vanishing twins" in Verbindung. Pränatalforscher sprechen von traumatischen Erfahrungen für den überlebenden Zwilling und von Konsequenzen für sein späteres Bindungsverhalten. Stallmach hat sich mit eben dieser vorgeburtlichen Verlusterfahrung eine Zeit lang intensiver beschäftigt, konnte jedoch keine Zusammenhänge ausfindig machen.

Peter Lang, Vorstand der Abteilung Gynäkologie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Graz, sieht die Angelegenheit pragmatisch: „Auf entwicklungsgeschichtliche Fragen gehe ich den Patienten gegenüber nicht ein, um sie nicht zu verunsichern". Lang operiert Dermoidzysten, sofern sie eine gewisse Größe erreichen und lässt sie anschließend von Pathologen histologisch untersuchen.

Die gute Nachricht: Dermoide im Ovar sind nicht nur fast ausschließlich von gutartiger Natur, sondern stellen auch für die Fruchtbarkeit der Frau kein Problem dar. „In den meisten Fällen lässt sich der Eierstock erhalten. Und wenn nicht kann die Frau auch mit einem Eierstock problemlos Kinder bekommen", so Lang.

Verlust in den ersten Wochen

Ganz vom Tisch ist das Thema „Zwillinge" damit allerdings nicht. Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Anteil von Zwillingsschwangerschaften zwischen 30 und 80 Prozent liege, konkret sind jedoch nur 3-5 Prozent Zwillingsgeburten. Wenn diese Zahlen stimmen, und Dermoidzysten keine „verlorenen" Zwillinge sind, stellt sich die trotzdem die Frage: Wohin verschwinden all diese Zwillinge? „Der Verlust müsste dann bereits in den ersten Wochen stattgefunden haben, noch bevor Mehrlingsschwangerschaften auch im Ultraschall zu erkennen sind", erklärt Stallmach und misst der Tatsache, dass Neugeborene eventuell einen verlorenen Zwillingspartner besitzen, jedoch keinerlei Bedeutung zu. Auch dann nicht, wenn der Tod eines Zwillingspartners in der Gebärmutter erst zu einem späteren Zeitpunkt eintritt, dieser somit umso größer und weiter entwickelt ist. In der Plazenta findet sich in diesen Fällen bei genauerer Untersuchung ein mumifizierter Fetus papyraceus. Für die überlebenden Zwillinge ist die vorangehende Situation mitunter dramatisch, da für den Tod des einen Zwillings häufig das akute fetofetale Transfursionssyndrom verantwortlich ist. Bei dieser Komplikation sind die Gefäße eineiiger Zwillinge miteinander verbunden. Ein Fötus bekommt zu viel Blut, während der andere Blut verliert.

Tatsächlich nimmt die Zahl der Zwillings- und Mehrlingsschwangerschaften stetig zu. Der Grund ist die Reproduktionsmedizin, die heute immer mehr Paaren zum ersehnten Kind verhilft. Gegen die gezielte Reduktion von Mehrlingsschwangerschaften verwehrt sich jedoch auch Stallmach. Diese beinhaltet nämlich das Töten eines gesunden lebenfähigens Feten im Mutterleib (Fetozid, Anm. Red.), unter dem Anspruch den überlebenden Kindern bessere Entwicklungschancen zu geben. „Wenn überhaupt, dann sollte eine vorgeburtliche Psychologie bei diesen „glücklich" Überlebenden in ihrem späteren Leben Symptome wie Verlustängste oder eine posttraumatische Reaktion finden", so Stallmach.

Fetus in Fetu

Das Rätsel um „vanishing twins" bleibt also ungelöst. Die Frage, ob eine Dermoidzyste eventuell ein eingangs erwähnter Fetus in Fetu sein könnte, hält Stallmach für unwahrscheinlich: „Es gibt eine Unterscheidung, die besagt, wenn bei Betrachtung einer Dermoidzyste im Ultraschall Wirbelsäulenstrukturen zu erkennen sind, dann sind es zwei Lebewesen gewesen. Sind amorphe Teilmassen zu sehen, dann ist es ein Einling, der eben ein Teratom ausgebildet hat", weiß Stallmach. Gewissheit, ob es sich bei einer Dermoidzyste um einen Fetus in Fetu handelt, würde aber auch hier nur die genetische Untersuchung bringen. (derStandard.at, 26.1.2011)